von Ulrich Krüger

 

I. Das ist so. (Juristisch).

Kinder fragen „warum“? Manchmal fragen sie so lange „warum?“ bis die Erwachsenen erwidern: „Das ist so“. Udo Reifner fragt ebenfalls „warum?“. Gerade im Bereich der Finanzdienstleistungen, über dem der Mehltau mangelhafter Kommunikation, Frageunfähigkeit und Antwortvermeidung in besonderem Maße liegt, ist das eine Frage mit Sprengkraft. Da kann es nicht verwundern, dass die Antwort häufig lautet: „Das ist so“. Punkt.

Dabei waren die Fragen von Reifner in seiner 1979 unter dem Titel „Alternatives Wirtschaftsrecht am Beispiel der Verbraucherverschuldung – Realitätsverleugnung oder soziale Auslegung im Zivilrecht“ erschienenen Dissertationsschrift gut gestellt. So gut, dass sie vielfältige Resonanz namhafter Rechtswissenschaftler auslösten und für Reifner selbst eine lebenslange wissenschaftliche Beschäftigung forderten. An sich für jemand, der eine Hochschullaufbahn anstrebt, das Beste was passieren kann. Aber ein zweischneidiges Schwert, wenn die Thesen weder in die damals von „rechts“ noch in die (wenigen) von „links“ gebildete Fakultätslandschaften der Rechtswissenschaft passen. Fehlende Anschlussfähigkeit ist im Wissenschaftsbetrieb bekanntlich ein Haupthindernis.

Für seinen „Fest-Blog“ zum 70sten habe ich seinen Beitrag aus der Festschrift für Norbert Reich ausgesucht: „Geld hat man zu haben“ — „soweit nichts anderes vereinbart“ (in: „Law and diffuse interests in the European legal order,  Recht und diffuse Interessen in der europäischen Rechtsordnung, liber amicorum Norbert Reich“, Hrsg. von Krämer, Micklitz, Tonner, 1997, S. 623 ff.). Wie der Titel schon sagt, geht es um das Dogma von der unbedingten Geldschuld. Darüber hinaus ist es eine Auseinandersetzung von Reifner mit der Kritik auf seine „soziale Auslegung im Zivilrecht“, fast 20 Jahre nach Erscheinen seines „Alternativen Wirtschaftsrechts“.

Vor Reifner und nach Reifner ist die ganz überwiegende, hier wirklich „herrschende“ Meinung der Auffassung, dass der Schuldner für seine finanzielle Leistungsfähigkeit uneingeschränkt einzustehen hat. Medicus etwa schrieb zusammenfassend nach einer gründlichen Befassung mit Reifners Thesen: „Einerseits wird der Satz „Geld muss man haben“ in unserer Rechtordnung nicht deutlich ausgesprochen, sondern bloß mehr oder weniger klar vorausgesetzt. Andererseits ist aber auch das Gegenkonzept Reifners gleich aus vielen Gründen nicht haltbar“ (Medicus, AcP 1988, S. 489, 497). Medicus hat in summa vielleicht sogar Recht. Seine eigene Begründung aus der Gesetzgebungsgeschichte kann allerdings ebenfalls nicht so ganz überzeugen. Im Vergleich dazu erscheint Reifners Ansatz, den Vertrag nach den Umständen („sozial“) auszulegen auch rechtsdogmatisch nicht unbedingt unterlegen. Jedenfalls kann Reifner damit die unbegrenzte Geldschuld vom Sockel des Dogmas holen und als schlichte Frage nach dem Bestehen eines zivilrechtlichen Anspruchs thematisieren, ob (Kredit-)Verträge auch ohne Einbeziehung der Fragen nach dem Einkommen immer einen von der Leistungsfähigkeit des (Geld-)Schuldners unabhängigen Zahlungsanspruch gewähren oder nicht. Darüber lässt sich zumindest streiten, während an Dogmen geglaubt werden muss: „Das ist so!“.

Inzwischen hat es eine Schuldrechtsreform gegeben und die Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinien. All dies hat jedoch nichts daran geändert, dass es keine gesetzliche Regelung zu der Frage gibt, ob und inwieweit den Schuldner ein „Verschulden“ an seiner Zahlungsunfähigkeit treffen soll oder nicht. Realistisch gesehen gehört damit diese Frage wohl endgültig in das Insolvenz- und Zwangsvollstreckungsrecht, trotz der von Reifner aufgeworfenen Frage, ob nicht die „strikte Trennung zwischen Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren ökonomisch unsinnig und überholt“ ist (Reifner, FS Reich, S. 645). Allerdings sollten solche und ähnliche Fragen nach dem juristischen Umgang mit der Geldschuld zu stellen, weiterhin die Aufgabe jedes Wirtschaftsrechtlers sein. Reifner findet dafür, wie überhaupt in vielen seiner Beiträge, auch in der Festschrift für Reich ein lebendiges Bild: „Ein Wirtschaftsjurist ohne Rekurs auf das Geld ist wie ein Geiger ohne Instrument“ (a.a.O., S. 634).

II. Das war so. (Persönlich).

Bis hierhin ist alles wenig überraschend. Die konservative Ablehnung einer Alternative zum bestehenden Dogma kommt nicht aus dem Nichts. Auch nicht überraschend ist, dass es im Zweifel beim Althergebrachten bleibt, denn das Neuere trägt, mit Robert Alexy zu sprechen, die Argumentationslast. Nur wenn die Argumente für die meisten überzeugend sind, setzt sich im Diskurs das Neue durch. Reifners Enttäuschung, dass seine Ideen von Medicus, Karsten Schmidt, Dauner-Lieb etc. nicht angenommen wurden, dürfte sich in den Grenzen des Erwartbaren gehalten haben. Es war die Einordnung als „Marxist“, die ihn getroffen hat und sie erfolgte von „rechts“ und „links“. Und darüber schreibt er in der Festschrift für Reich. Das haben einige für unpassend gehalten. Ich selbst kannte weder Reifners Beitrag, noch Reifner oder das „Institut für Finanzdienstleistungen“ (abgesehen vom Vorstellungsgespräch) selbst. Allerdings fielen mir ein paar hochgezogene Augenbrauen auf, als ich 1998 im DFG Graduiertenkolleg „Risikoregulierung und Privatrechtssystem“ an der Uni Bremen verkündete, dass ich nach Fertigstellung meiner Dissertation mein Reststipendium zurückgeben und nach Hamburg zum IFF wechseln würde. Dass dies nicht auf die altbacken-hanseatische Bremen-Hamburg Rivalität zurückzuführen war, wurde mir klar, als ich auch noch auf den „unmöglichen Beitrag in der Festschrift Reich“ angesprochen wurde. Ehrlich gesagt hat mich all das nicht interessiert, die Diskurse und Streitigkeiten unserer „68er-Professoren“ war nur bedingt auch die unsrigen. Erst später habe ich den Beitrag gelesen. Ich glaube sogar erst, nachdem Udo mit mir darüber gesprochen hatte. Das war so:

An irgendeinem Abend im Büro, damals noch in der Burchardstraße, waren Udo und ich die letzten. Es war bereits stockdunkel. Nur in unseren beiden, direkt am Flur gegenüberliegenden Zimmern brannte noch Licht. Wegen irdeneiner Frage, vermutlich wegen irgendeines im IFF häufig sehr dringend noch zu Ende zu führenden oder zu beantragenden Projektes, ging ich zu ihm und es entspann sich ein langes Gespräch über die Zeit seiner Stellensuche für eine Professur. Zwar kann ich mich natürlich nicht mehr an Details erinnern. Außerdem bin ich eine andere Generation. Dennoch hat dieses persönliche Gespräch eine tiefe Wirkung bei mir hinterlassen. Der Radikalenerlass war für mich eigentlich nur noch ein Echo aus der Kindheit, in der ich von den Fahndungsplakaten fasziniert war, wie als Beobachter eines Räuber-und-Gendarm Spiels. Für Udo war all das kein Spiel gewesen, sondern erlebte, berufliche Existenzangst – weil es damals eben schon ausreichen konnte, wenn man das Etikett „Marxist“ umgehängt bekam. Das war zwar mehr oder weniger unproblematisch, wenn man bereits eine Professur hatte. Wer allerdings noch Beamter werden wollte, für den war die Gefahr, die sich für einen Ruf aus so einem Ruf ergeben konnte, beträchtlich. Udo hat sich selbst, soweit ich weiß, nie als „Marxist“ gesehen. Und jedenfalls aus heutiger Sicht kann ein (zugegeben marxistisch „ungeschulter“) Leser kein staatsumstürzendes, revolutionäres Gedankengut erkennen. Udo beschrieb in seiner Dissertation zwar die Realitätsverleugnung des Rechts. Er sieht darin allerdings als Rechtssoziologe ausdrücklich eine für die Korrektur anschlussfähige Abstraktionsleistung und nicht den Ausdruck einer kapitalistischen Weltanschauung mit der Konsequenz beides, bürgerliche Rechtsordnung und Kapitalismus gleichermaßen zu beseitigen. Damit unterscheidet er sich wohl von Marx. Aber genau diese Unterscheidung wollten seine Kritiker von „rechts“ und von „links“ nicht sehen – oder konnten es nicht sehen.

Für Udo, Ende der 70er schon Familienvater und natürlich auf Stellensuche, war die allgemeine Einordnung als Marxist keine Lappalie. Dass er an einer regulär-konservativen Fakultät wohl keine Professur bekommen könnte, war klar. Dass er allerdings auch an den eher „linken“ Fachbereichen nicht so recht ins Nest zu passen schien, war bedrohlich. Katastrophal wäre es nun gewesen, wenn auch die Professur an der HWP daran scheitern würde, dass er als staatsfeindlicher Marxist nicht tragbar gewesen wäre. Besonders übel war zudem, dass Udo die Klassentheorie von Marx mit ihren (in der Realität dann bekanntlich grausamen) Kurzschlüssen in Wirklichkeit ablehnte, ja ganz im Gegenteil, Udos Theorien viel eher auf eine Anpassung des bestehenden Wirtschaftssystems gerichtet sind. Nur so konnten im Übrigen auch in der praktischen Arbeit des IFF Projekte nicht nur von Verbraucherschutzseite sondern auch von Banken bearbeitet werden, ohne damit gleichzeitig die Grundlagen preiszugeben.

All das musste sich irgendwann Luft machen und es machte sich im Beitrag zur Festschrift Reich Luft. Ja, sicher. Man kann sagen: so geht das nicht, das macht man nicht, schon gar nicht in einer Festschrift, Jubelfeier! Klassentreffen! Auf der anderen Seite hat mich damals der Mut seiner Wut beeindruckt, auch im „eigenen Lager“ (das ja eben nie sein so richtig „eigenes“ wurde) öffentlich zu benennen, was er als falsch empfunden hat. Mit dem Wissenschaftsbetrieb so persönlich in einer Festschrift abzurechnen, ist, je nach Blickwinkel, eine aus Kränkung entstandene Unverschämtheit oder einfach im gerechten Zorn großartig querliegend. Dass Udo im Übrigen durchaus seinen Zorn nicht nur nach Außen, sondern auch nach Innen richten konnte, haben wir im IFF leider einige Zeit später erlebt, als aus einem Richtungs- und Führungsstreit im IFF eine verlustreiche Auseinandersetzung entstand. Ich habe darüber nachgedacht, ob nicht sogar dieser „Fest-Blog“ ein adäquat-äquivalenter Ort für eine Nachbetrachtung sein könnte, aber letztlich ging es dabei um Institutsinternes. Die Debatte um das Dogma der unbeschränkten Geldschuld spielte demgegenüber in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit und die muss es sich gefallen lassen, dass jemand – auch in einer Festschrift – den festlichen Vorhang kurz zur Seite zieht, wie Udo es getan hat. Damit ist in meinen Augen der ausgewählte Beitrag nicht nur in seinen juristischen Ausführungen, sondern auch in diesem zeithistorischen Aspekt heute noch sehr lesenswert, als ein Echo auf eine Phase unserer „freiheitlich demokratischen Grundordnung“, in der die politische Einordnung auch die Berufswahl unmittelbar betreffen konnte.

III. Das bleibt (so).

Udo Reifner hat in der Zeit, in der ich ihn am IFF erlebt habe, für seine Ideen des Rechts in Theorie und Praxis stets selbstsicher und mit ansteckendem Furor gekämpft. Wenn auch das Kämpfen wohl in seiner Natur liegt, vermute ich doch, dass er zumindest bei seinen Enkeln, um die er sich jetzt sehr gern kümmert, nicht mehr jeden Kampf gewinnen kann. Er wird auch nicht die Notwendigkeit dazu sehen. Ich bin mir allerdings sicher, dass er auf deren Fragen nach dem „Warum?“ immer wieder neuen Antworten (oder Gegenfragen) finden wird. Als Jurist wird Udo Reifner ohne Zweifel noch weiter produktiv bleiben, auch das liegt in seiner Natur, und dabei seinerseits immer weiter nach dem „Warum?“ fragen und ob man es nicht anders und besser machen könne. Das möge so bleiben. Das bleibt.

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Unsere Tradition der jüdischen Juristen

Comment by Udo Reifner

Ich hätte über meine Befindlichkeit („Das war so“) selber nicht besser schreiben können als wie Du es im zweiten Teil tust. Tatsächlich war meine wissenschaftliche Laufbahn davon gekennzeichnet, dass ich mich nicht distanzieren konnte. Nur Distanzierung von anerkannten Feinden schaffte ja lange Zeit Chancen und Akzeptanz in juristischer Lehre und Forschung. War es meine familiär bedingte religiöse Einstellung? Mein Vater vermittelte mir schon mit 12 Jahren tiefe Verachtung, wenn ich bei Freunden, in Restaurants oder beim öffentlichen Picknick das Tischgebet nicht auch allein demonstriert hatte. Lächeln und Spott sollte ich als Auszeichnung ansehen. Ich habe daraus nicht gelernt, ein gläubiger Christ zu werden, sondern eher umgekehrt auch dann zur eigenen Religionskritik zu stehen, wenn man dem alten Umfeld nicht entfliehen kann. Das Recht, eine eigene Meinung zu haben, ist nicht einfach. Ob man es hat, erfährt man nicht im stillen Kämmerlein oder in der inneren Emigration.

Der Strafverteidiger Harry Litten war einer meiner großen Leitfiguren. Er vernahm Hitler im Edenpalast-Prozess von 1931 als Zeuge und ließ ihn so lächerlich und lügnerisch aussehen, dass die angeklagten Kommunisten freigesprochen werden mussten. Kaum an die Macht gekommen hatte Hitler die teuflische Idee, dass der Prozess mit einer Aussage gerade dieses Strafverteidigers wieder aufgerollt werden sollte. Litten sollte bezeugen, dass die Angeklagten ihm die Tat gestanden hätten. Harry Litten verweigerte dies. Er wurde von 1933 bis 1938 in Gefängnissen und Konzentrationslagern so gefoltert, dass man ihn nicht mehr vorzeigen konnte. Er wählte den Freitod. Seine Mandanten konnte Litten mit seiner Standhaftigkeit vor der Gestapo nicht schützen. Die hatte ein neues Recht erhalten, das sich auf die Doktrinen der Rechtslehrer stützen konnten, die uns später „geläutert“ mit ihren Schriften aus München belehrten. Litten verteidigte das Anwaltsgeheimnis. Er stand dazu, dass ein advokatorisches Rechtssystem ein Grundpfeiler der Demokratie ist und niemand wegen seiner Überzeugungen verfolgt werden darf.

Auch der Doyen aller Strafverteidiger, Max Ahlsberg, wählte den Freitod in der Schweiz. Er wollte trotz eines Rufes an die Sorbonne seine Idee des Advokatorischen nur in Deutschland, für dessen Rechtssystem er gearbeitet hatte, umsetzen.

Man wird den jüdisch-stämmigen deutschen Anwälten und Professoren nicht gerecht, wenn wir ihre Verfolgung mit ihrem Judentum begründen. Litten wurde von den Nazis zum Juden erklärt, obwohl seine Mutter widersprach. Diese Anwälte waren zuallererst Leuchtfeuer des Rechtsstaates. Der Schlamm des Antisemitismus könnte sie auch heute noch begraben. Unsere Versuche in dem groß angelegten Projekt zu den jüdischen Anwälten ab 1923 den Schlamm zu entfernen fand weder bei der BRAK noch beim DAV Interesse. Man hatte seine eigenen Archivare.

Wie unbedeutend waren die Berufs-, Publikations- und Lehrverbote. Sie drohten nur, wenn man sich weder auf die herablassend linksliberale Art noch auf die hasserfüllte Form der Distanzierung von einem Philosophen des 19. Jahrhunderts einließ, den kaum einer der Pharisäer wirklich kannte. Für die Distanzierung genügte es ja schon, auf den Mangel an Bohnenkaffe in der DDR zu verweisen. Die Gemeinschaft der Verfassungstreuen hätte ihm offen gestanden. Mehr Distanzierung wurde ja in den Entnazifizierungsverfahren auch nicht verlangt. Als mich eine Kollegin in einflussreicher Position anrief und mich bat ihr einfach zu sagen, dass ich kein Kommunist sei, habe ich nicht auf Warum-Fragen insistiert. Das war für den Job dann auch gut so. Man muss schon wissen, wo die Verteidigung von Prinzipien Sinn macht.

Aber eine Rückkehr zur fundamentalistischen Dorfgemeinschaft meiner Jugend wird es wohl auch nicht geben. In der Gesellschaft lebt man mit denen gut, die man trifft. In der Gemeinschaft braucht man zum Menschsein ein weiteres Band, das mangels gemeinsamer Abstammung ein Führer definieren muss. Wer es nicht vorweisen kann oder soll, der wird dann, wie uns die AFD lehrt, schnell zum Feind. Das gehört vielleicht auch zum ausgesparten „Richtungsstreit“ im iff 2000, als wir uns Mobbing leisteten und die Türen zugingen, wenn ich ins Büro kam. Auch zu meiner eigenen Gemeinschaft wollte ich nicht gehören. (19.11.2018)