Kommentar zu: Udo Reifner, Verbraucherverschuldung und Arbeitslosigkeit. Soziale Problematik und zivilrechtliche Bewertung, in: Hassemer, W./ Hoffmann-Riem,W./ Weiss, M. (Hrsg.), Arbeitslosigkeit als Problem der Rechts und Sozialwissenschaften (Schriften der Vereinigung für Rechtsoziologie Bd. 4, Baden-Baden), 1980, S. 355-387.
von Karl-Jürgen Bieback

 

Als Arbeits- und Sozialrechtler bin ich das erste Mal und dann für mich auch gleich sehr nachhaltig auf ein wissenschaftliches Referat Udo Reifners auf der Tagung 1979 der Vereinigung für Rechtssoziologie gestoßen. Udo Reifner referierte dort zum Thema „Verbraucherverschuldung und Arbeitslosigkeit – Soziale Problematik und zivilrechtliche Bewertung“. Udos Arbeit stammt aus seinem großen Tätigkeitsfeld am WZB in Berlin zum Konsumentenkredit, Verbraucherschutz und Privatinsolvenz. Bei einigen Rechtssoziologen zivilrechtlicher Provenienz stieß Udo Reifners Vortrag auf krasse, pauschale Ablehnung. Das hatte mich damals sehr erstaunt. Denn zumindest bei den Rechtssoziologen hatte ich mir mehr rationalen Diskurs, sachliche Arbeit am Detail wie an den Großargumenten des Rechts erhofft.

Für mich war und ist der Artikel ein gutes Beispiel für jene Art rechtssoziologischer und rechtsdogmatischer Analyse, die nicht nur fragt, wie das Recht in der Praxis angewandt wird und wie die Praxis auf das Recht zurückwirkt, sondern die auch die Offenheit und Ambivalenzen zentraler Rechtsbegriffe und Argumentationsfiguren deutlich macht, und das mit guten Gründen. Bis in dieses Jahrhundert hinein habe ich den Aufsatz in zwei Lehrveranstaltungen verwandt: Vor allem im Kurs zur Methodenlehre, sodann auch in Projekten und Kursen zum Arbeitsmarktrecht.

Was machte und macht diesen Text aus?

Einmal enthält er im ersten Teil (I) eine sehr solide, faktenreiche sozio-ökonomische Analyse, weshalb abhängig Beschäftigte Konsumenten- und Ratenkredite aufnehmen müssen. Und damit entzieht der Artikel dem vorherrschenden Vorurteil (auch des bildungsbürgerlichen Milieus, aus dem die meisten an der Universität kommen) die Basis, die Unterschicht sei doch selber schuld an ihrem Elend, sie müsse sich eben mit dem bescheiden was sie hat und sie müsse nicht auf die plumpen Verführungen der Handelskonzerne in Zusammenarbeit mit dem Finanzkapital hereinfallen. Die Darlegungen zur Verschiebung des notwendigen Konsums hin zu teuren, langlebigen Konsumgütern, der Entwicklung der Haushaltsbudgets und dem Auseinanderklaffen von Konsumperiode (langfristig) und Einkommensperiode (monatlich, unsicher) entzieht dem jede Basis. Hinzu kommt, dass sich eine monatliche Ratenzahlung nicht mehr kalkulierbar in das 20-fache und mehr verwandelt, wenn mit dem Verzug von eine oder zwei Raten das ganze Darlehen fällig wird. Das macht die „normale“ Reproduktion der Arbeitnehmer prekäre, was hoher Arbeitslosigkeit, die in der Regel zu Zahlungsschwierigkeiten arbeitsloser Arbeitnehmer führt, erst richtig deutlich wird. Das sind Risiken, die nicht der Sphäre individueller Beliebigkeit der Konsumenten zuzurechnen sind, sondern die „systemisch“ mit den modernen Reproduktionsbedingungen und dem Risiko der Arbeitslosigkeit zusammenhängen und mitnichten durch den Lohnersatz der Arbeitslosenversicherung abgedeckt werden aber sozialstaatlich bearbeitet werden müssen. Für Sozialrechtler eine wichtige, vom Sozialrecht übersehene Dimension.

Zum zweiten enthält der Aufsatz (unter II) dann eine grundlegende Kritik zentraler juristischer/zivilrechtlicher Dogmen, die unhinterfragt dem Schuldrecht („Geld muss man haben“), ja dem Recht insgesamt („pacta sunt servanda“) zu Grunde liegen und immer wieder zu Grund gelegt werden. Dabei werden sie in ihrer unerschütterlichen Gleichheit auf sehr andersartige Lebenswelten und Klassenlagen angewandt. Speziell für den Kreditvertrag macht der Aufsatz den Unterschied zwischen Darlehen zur Finanzierung von Kapitalinvestitionen und Darlehen zur Finanzierung des Konsums deutlich. Und dieser Unterschied und die enge Verbindung mit der Unsicherheit der Lohnabhängigen ist den Kreditgebern bewusst, geht auch in das Vertragsgeschehen, der unterschiedlichen Prüfung der Bonität und Sicherheiten etc. ein wie er auch einzelne Vertragsklauseln prägt. Am Ende steht dann die Verwandlung des schuldrechtlichen Prinzips „Geld muss man haben“ in „Arbeit/Arbeitseinkommen muss man haben“. Und letzteres ist eine kontrafaktische Annahme, die sich hinter den abstrakten vertragsrechtlichen Prinzipien verbirgt. Das ist mehr als eine oft notwendige, aber oft auch oberflächlich-beliebige Kritik der bürgerlichen Rechts-Ideologie, die damals bei linken Juristen (gerade auch in meinem Fach, dem Arbeitsrecht) sehr beliebt war. Von ihr muss man in einer Analyse der juristischen Methode wegkommen, einmal hin zur Kritik zentraler Vorverständnisse des Rechtssystems aber auch hin zu einem weiteren Schritt, der dann in der Arbeit Udo Reifners folgt: Die Erörterung der Frage welche Lösungen gibt es denn im bestehenden Rechtssystem und welche sollte man rechtspolitisch angehen?

Das ist der dritte wichtige, ungemein interessante aber auch kritisch zu diskutierende Aspekt dieser Arbeit. Sie entwickelt das Konzept einer „sozialen“ Interpretation der Darlehensverträge, die eng dem Vertragstext und dem Vertragsgeschehen folgt, also nichts Fremdes über den Vertrag stülpt, sondern zeigt, dass der Darlehensvertrag über das Geschehen beim Abschluss wie bis in seine Formulierungen hinein von dem Zusammenhang von Rückzahlung und Verfügung über Lohn/Gehalt abhängt. Sie ist notwendig, da sich hinter der abstrakten Natur der schriftlich „eindeutig“ von den Konsumenten unterzeichneten Vertragsklauseln, ja das einseitig von den Darlehensbanken auf- und durchgesetzte Vertragsformular verbirgt. Udo Reifner fasst die Auslegung dann in ganz gängige, aber mit einem anderen Verständnis ausgestattete Rechtsfiguren, der Geldschuld die (nur) in diesem Fall eine „Gattungs- und Vorratsschuld“ ist (d. h. nur aus dem laufenden, verfügbaren Einkommen, so vorhanden, zu begleichen ist). Da Arbeitslosigkeit nicht vom Arbeitnehmer verursacht ist, kann der Darlehensnehmer regelmäßig auf unverschuldeten Verzug und bei längerer Arbeitslosigkeit auf längeres unverschuldetes Unvermögen verweisen. In der Regel führt das zumindest zu einem Zahlungsaufschub von 2 und mehr Monaten.

Hier nun setzte und setzt auch heute noch die Diskussion und auch weiterführende Kritik an.

(1) Dieser Ansatz ist zwar auf Arbeitslosigkeit bezogen, er drängt aber wie jede juristische Argumentation dahin, auf der Ebene des Vertragsrechts verallgemeinert zu werden. Was sind die Grenzen? (a) Leicht bietet sich die Verallgemeinerung auf alle existentiellen Risiken an, die zwar durch das Sozialleistungssystem abgedeckt werden, aber immer zu einer sehr viel niedrigeren Quote als das vorherige Einkommen. Gilt diese Argumentation auch für den Fall, dass ein Ehepaar gemeinsam ein Konsumgut kreditfinanziert kauft und nur ein Partner mit seinem Einkommen wegen Arbeitslosigkeit aber auch Tod oder Unfall ausfällt und bei Rentnern in den damals üblichen Sparrunden die an sich fälligen Rentenerhöhungen gestrichen werden? (b) Wenn Geldschulden materialisiert und auf ihren sozioökonomischen Grund bezogen werden, um ihre sozial angemessene Abwicklung zu steuern, warum soll das nur bei Konsumentenkrediten von Arbeitnehmern bei Arbeitslosigkeit gelten und nicht auch bei einigen der vielen anderen vermachteten dauerhaften Vertragsbeziehungen (Miete; Versicherungsverträge) und mit welchen Konsequenzen?

(2) Auch in anderen Rechtsgebieten stoßen die allgemeinen Regeln des Zivilrechts auf ihre Grenzen, stiften keine auch nur halbwegs die Interessen beider Seiten berücksichtigende Lösung, sondern einseitig Unheil zu Lasten der ökonomisch Unterlegenen. Dies ist z. B. bei dem Annahmeverzug des Arbeitgebers, der seine Arbeitnehmer nicht beschäftigen kann/will, weil er aufgrund seiner hohen Verflechtung mit anderen Unternehmen, die bestreikt werden oder von Naturereignissen betroffen sind, seine Produkte nicht absetzen kann oder notwendige Zulieferungen nicht erhält. Hierfür gibt es spezielle Lösungen im Arbeits- und Sozialrecht. Wäre dann nicht auch statt einer Auflösung der allgemeinen Regeln der Schuldrechts spezielles Schutzrecht, nämlich Verbraucherschutzrecht bzw. Konsumentenkreditrecht mit klar umgrenzten Geltungsbereich und Problemlagen angemessener? Hätte das nicht den Vorteil, die formelle Rationalität des allgemeinen Zivilrechts unangetastet zu lassen. Oder wäre das nicht eher ein Nachteil, weil sich unter veränderten Bedingungen doch immer wieder die Logik des allgemeinen Zivilrechts, die Logik des sozial blinden Warentauschs durchsetzt?

Udo Reifner hat alle diese Probleme schon damals und dann später immer wieder wissenschaftlich scharf und praktisch fruchtbar analysiert und ist auch selbst verbraucherpolitisch sehr aktiv geworden, bis hin zur Verbraucherkreditrichtlinie der EG/EU und dem deutschen Verbraucherkreditgesetz, die beide aber die hier behandelten Probleme gerade nicht angehen. Eine dogmatisch-methodische Reflektion auf eine soziale Interpretation des Zivilrechts bleibt also notwendig.

Die Schwäche dieses Artikels ist es deshalb nur, seine Lösung nicht am Schluss einzuordnen und zu relativieren bzw. andere Lösungen kurz anzusprechen. Nur ist das zugleich auch eine Stärke dieses Artikels, sich nicht auf dies einerseits-andererseits einzulassen, sondern die herrschende Dogmatik auf den Prüfstand zu stellen, ihre Einseitigkeit und Blindheit anzugehen und sie weiter zu entwickeln. Die soziale Ausgestaltung langwährender Vertragsbeziehungen, die eine wichtige Lebensressource den Zwängen der Kapitalverwertung anderer unterwirft wie auch die Re-Materialisierung der abstraktesten ökonomischen Mittel von Geld und Kredit und der auf sie bezogenen juristischen Dogmatik und soziokulturellen Semantik und Grammatik des Kapitalismus bleiben ein notwendiges und schwieriges Geschäft. Für den Wissenschaftler Udo Reifner (und die vielen, mit denen er kooperiert hat) ein Lebenswerk, voller Hoffnungen und Mühen und vielen gelungenen Meisterstücken.

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