von Hans-Peter Schwintowski
Es gibt – aus meiner Sicht merkwürdigerweise – in der Rechtswissenschaft geradezu eine Abneigung, sich mit den Funktionen und damit auch den Wirkungen des Rechtssystems auseinanderzusetzen. Viele unserer Kolleg/innen meinen, die vornehmste Aufgabe des Rechtswissenschaftlers bestünde darin, sich mit den von der Politik gesetzten Regeln wissenschaftlich auseinanderzusetzen, also das System des Rechts mithilfe der Dogmatik auf Unstimmigkeiten und Widersprüche zu durchforsten und mithilfe der Methodenlehre vor allem den Sinn und Zweck einer Norm zu ergründen. Keine Frage: Das sind wichtige, grundlegende Aufgaben der Rechtswissenschaft, aber – und in diesem Punkte bin ich genauso sicher – damit wird das Ziel der rechtswissenschaftlichen Durchdringung der Gesamtrechtsordnung nur teilweise erreicht. Der Grund dafür liegt in der Funktionalität des Rechts, also der Aufgabe mithilfe von Normen und Normensystemen überprüfbare und durchsetzbare Sozialordnungen zu schaffen auf der einen Seite und auf der anderen Seite mithilfe des Gesamtrechtssystems zur Lösung sozialer Konflikte beizutragen. Beide Grundaufgaben des Rechts, die Ordnungs- und die Konfliktlösungsfunktion, erzwingen es geradezu, die Frage zu stellen, ob das Rechtssystem die Normen bereitstellt, die die Ordnung schaffen, die geschafft werden soll und/oder die Konflikte lösen, die gelöst werden sollen. Könnte es sein, dass das System Normen enthält, die das nicht leisten, was sie leisten sollen? Könnte es sein, das Konflikte, die gelöst werden soll, ungelöst bleiben? Ist es denkbar, dass die Rechtsordnung Regeln womöglich nicht enthält, die aber gebraucht werden, um Fehlsteuerungen und Fehlanreizen des Rechtes zu begegnen und damit Funktionsdefizite sowohl bei der Ordnungs- als auch bei der Konfliktlösungsfunktion entweder abzubauen oder doch zumindest zu vermindern – im Minimum erkennbar zu machen? Hinter diesen Fragen steht die mich seit vielen Jahren leitende und prägende Grundauffassung, wonach das Rechtssystem vom Grundsatz der Funktionalität maßgeblich geprägt ist. Das Recht ist, anders als es Kelsen versucht hat zu suggerieren, keine Reine Rechtslehre – es ist nicht losgelöst von der Sozialordnung, in die es hineinwirkt und in die es mitprägt, sondern es ist eben Teil dieser Sozialordnung, d.h. geradezu untrennbar mit ihr verwoben. In einem Rechtsstaat, so könnte man vielleicht formulieren, ist das Rechtssystem das Korsett der gesamten Sozialordnung. Es bewirkt Stabilität, Vorhersehbarkeit und damit zugleich Verlässlichkeit und Frieden.
Aus diesem Gründen meine ich, dass sich Rechtswissenschaft natürlich mit der Dogmatik des Systems und der Auslegung, aber darüber hinaus notwendigerweise mit der Funktionalität des einzelnen Rechtssatzes und des gesamten Rechtssystems zu beschäftigen hat. Auf diese Weise werden Fehlsteuerungen, Fehlanreize, Dysfunktionalitäten, aber auch Diskriminierungen und Verwerfungen unterschiedlichster Art offenkundig und sichtbar. Dieses aus dem Wesen des Rechts als dem grundlegenden Funktions- und Steuerungsmechanismus des Rechtsstaats gewonnene Erkenntnis teilen Sie, wenn ich Ihr großes Wirken in den letzten Jahrzehnten einigermaßen richtig nachvollzogen habe, mit mir. Paradigmatisch für mich sind Ihre Überlegungen zur Massenklage – eine Form kollektiven Rechtsgebrauchs? in der Zeitschrift für Rechtssoziologie (03/1981, 81) oder Ihre Überlegungen zu Neuen Formen der Verbraucherrechtsberatung aus dem Jahre 1988, Ihre Überlegungen zu Erfolgs- und Zugangsbarrieren in der Justiz (DuR 1981, 143-154), wo Sie Rechtsdurchsetzungsprobleme, was ich sehr überzeugend finde, auch als Probleme des materiellen Rechts thematisieren und schließlich Ihre Überlegungen in der FS für Blankenburg aus dem Jahre 1998 (Recht und Richter – zur Rechtssoziologie des Rechtsgebrauchs, S. 103-127) mit der These, dass Entformalisierung und Entrechtlichung nicht vor den Gerichten, sondern außergerichtlich stattfinden sollte.
Diese Überlegungen sind aus meiner Sicht nicht etwa bloße Rechtspolitik, sondern sie verweisen auf eine Aufgabe des Rechtwissenschaftlers Fehlsteuerungen und Funktionsdefizite innerhalb der Rechtsordnung mit wissenschaftlichen Methoden zu ergründen und Vorschläge für ihre Überwindung zu machen.
Ein Rechtswissenschaftler, der sich wie Udo Reifner, sein ganzes Leben lang zumindest auch und immer wieder mit der Funktionalität des gesamten Rechtssystems beschäftigt hat, muss sich gelegentlich vorhalten lassen, dass die Frage nach dem Sinn und Zweck einer Norm doch identisch sei mit dem Problem der Funktionalität des Rechts. Dieser Einwand ist grundlegend, im Ergebnis aber nicht tragend. Die Frage nach dem Telos einer Norm ist richtig und wichtig. Letztlich geht es bei ihr darum herauszufinden, welches Ziel der Gesetzgeber mit der Normsetzung verbunden hat. Dabei wird die Zielsetzung regelmäßig als dynamisch in der Zeit verstanden, d.h. auch wandelnde Auffassungen und wandelnde Wertvorstellungen gehen in die Zielsetzung mit ein, so als würde der Gesetzgeber die Norm geradezu immer wieder neu bekräftigen und bestätigen. Auf diese Weise können Rechtswissenschaft und Rechtsprechung sich wandelnde Wertvorstellungen in das Rechts- und Sozialsystem mit aufnehmen und berücksichtigen. Keine Frage, die Suche nach dem Sinn und Zweck einer Norm ist einer der bedeutendsten Treibriemen unseres Rechtssystems.
Problematisch werden die Dinge dann, wenn das Rechtssystem die Norm, die zum Funktionsgleichgewicht gebraucht wird, gar nicht enthält oder nur unteroptimal bereitstellt. In solchen Situationen ist es die vornehmste Aufgabe der Rechtswissenschaft den Gesetzgeber darauf hinzuweisen, dass Fehlsteuerungen im Rechtssystem korrigiert werden müssten, um das Gesamtziel des Systems, seine Metafunktionalität, zu gewährleisten. Lassen Sie mich einige Beispiele bilden:
Ein Rechtssystem lebt davon, dass die ihn prägenden Ordnungs- und Konfliktlösungsnormen rechtlich durchgesetzt werden können. Diejenigen, deren Rechte im System eingeschränkt werden, bekommen die Macht das System zu ändern, indem man ihnen subjektive Rechte, also die Möglichkeit des Klagens, zuweist. Was geschieht aber dann, wenn der Gesetzgeber, denen, die betroffen sind, die erforderlichen Klagerechte nicht oder nicht in angemessener und effektiver Form zuweist?
Ein wichtiges Beispiel ist die in Deutschland seit Jahrzehnten fehlende Bündelklage. Verbraucher/innen, die gleichförmig betroffen sind, können sich nur unteroptimal wehren, weil sie ihre Interessen nicht bündeln können. Die Folge: In vielen Fällen lohnt sich ein Prozess mangels Streitwertes nicht oder das Geld reicht nicht, um den Prozess zu führen, oder die psychische Belastung ist zu groß. Kurz: Der Anreiz, die Interessen von Verbraucher/innen zu verletzen, ist groß, weil der Sanktionsmechanismus dagegen zu schwach ist. Die Untersuchungen zu dieser Frage sind Legion. D.h. das Problem als solches ist durchaus erkannt, aber: die Verbraucher/innen haben keinerlei Handhabe den Gesetzgeber zu einer Korrektur des Rechtssystems zu zwingen.
Als Folge hiervon werden Kartellschäden in erheblichen Umfang nicht durchgesetzt. Umgekehrt beinhaltet dies einen Anreiz zum Kartellieren, einfach deshalb, weil die Betroffenen ja ohnehin keine angemessenen Rechtsschutz haben. Es lohnt sich also, das Kartellrecht zu umgehen. Das gleiche gilt übrigens für das Vergaberecht – ein Verstoß gegen das Vergaberecht ist nicht nur straf- und bußgeldrechtlich nicht sanktioniert, sondern führt in der Regel auch zu keinem zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch, einfach deshalb, weil diejenigen, denen gegenüber nicht ausgeschrieben wird, in der Regel ihren Schaden weder erkennen noch beziffern können.
Ein weiteres Beispiel ist das Erneuerbare-Energien-Recht. Es gibt sicherlich sehr viele gute Gründe zum Umstieg auf erneuerbare, CO2-freie Energien. Ich selbst würde sagen, dass der Klimawandel nicht einmal der Hauptgrund ist. Mir leuchtet es jedenfalls ein, dass wir den nachfolgenden Generationen noch Erdöl, Erdgas, Kohle hinterlassen und dass wir uns mit Energien versorgen, die uns die Natur kostenlos zur Verfügung stellt, wie etwa Wind, Sonne oder Geothermie. Mir leuchtet es deshalb auch ein, dass wir Fördersysteme für das Durchsetzen erneuerbarer Energien eingeführt haben und praktizieren. Es leuchtet mir aber nicht mehr ein, dass wir diese Fördersysteme nicht darauf untersuchen, ob sie ihren Zweck womöglich erfüllt haben. Es fehlt eine Klausel im System, die dazu führt, dass die Betreiber von Erneuerbaren Energieanlagen nicht überdimensioniert gefördert werden – es fehlt eine Amortisationsklausel. Die Letztverbraucher/innen von Strom, die die EEG-Umlage zahlen müssen, haben im Rechtssystem keine Möglichkeit, diese fehlende Amortisationsklausel einzuklagen. Ich frage mich, warum?
Lassen Sie mich ein letztes Beispiel bilden: Prozesse dauern in unserem Lande sehr lange und sind – in Abhängigkeit vom Streitwert – sehr teuer. Wer sich zu seiner Vertretung eines guten Anwaltes bedient, muss mit Stundensätzen zwischen 300,00 und 600,00 Euro rechnen – das können sich viele Betroffene einfach nicht leisten. Die Folge hiervon ist, dass eine große Zahl von Prozessen auch dann nicht geführt werden, wenn die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen groß ist. Die Gefahr, trotz einer hohen Nutzenwahrscheinlichkeit, womöglich doch zu scheitern, kann nicht wegdiskutiert werden – das wiederrum schreckt, will man nicht völlig verarmen, von der Prozessführung ab.
Der Staat hat diese Fragen durchaus erkannt und ein System der Prozesskostenhilfe entwickelt. Dieses System ist unteroptimal – es bürdet denjenigen, die es sich letztlich nicht leisten können, das Risiko des Verlustes auf – in der Regel nur zeitlich verzögert. Ein solches System führt also nicht dazu, dass die Betroffenen, die durchaus im Recht zu sein scheinen, die Möglichkeit erhalten, dies vor den Gerichten auf den Prüfstand zu stellen. Wir benötigen also so etwas wie einen staatlichen Prozessfinanzierer, der im Interesse Aller dafür sorgt, dass jeder Ansprüche, die nicht völlig aus der Luft gegriffen zu sein scheinen, auf den Prüfstand der Rechtsordnung stellen kann.
Außerdem benötigen wir ein sehr viel effektiveres und schnelleres Rechtssystem. Möglicherweise müssten wir dafür mehr Jurist/innen in der Justiz beschäftigen oder aber wir müssten uns der modernen Techniken der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz bemächtigen, um auf diese Weise Entscheidungs- und Prüfabläufe für rechtliche Fragen deutlich zu beschleunigen. Die von unserem Kollegen Breidenbach vor Jahren bereits entwickelten Knowledge-Tools sind nur ein Beispiel dafür, wie man es machen könnte – im Moment schießen Start-Ups, die IT-basierte Rechtsdienstleistungen anbieten, geradezu täglich aus dem Boden.
Ich könnte diese Beispiele erweitern und fortsetzen, will dies aber nicht tun, sondern zur Grundfrage zurückkehren. Die Grundfrage lautet, wieso die Betroffenen, also die Verbraucher/innen, in all diesen eben genannten Fällen der Funktion- und Fehlsteuerung im Rechtssystem, kein Recht haben, diese Funktionsstörungen auf den Prüfstand des Rechts zu stellen? Was ist der Grund dafür, dass wir ihnen zwar die Möglichkeit geben bei der nächsten Bundes- oder Landtagswahl der einen Partei die Stimme zu entziehen und sie der anderen zu geben, ohne dass damit eine Gewähr verbunden wäre, dass das Rechtssystem als Funktionssystem dann korrigiert wird, wenn die Korrekturnotwendigkeit – natürlich nach ausführlicher Diskussion – erkannt worden ist.
Mit Sicherheit kann hier die Politik helfen – auch die Medien haben eine mitsteuernde Rolle und können dafür sorgen, dass Missstände in der Rechtsordnung erkannt und letztlich politisch – also durch gesetzgeberische Akte – korrigiert werden. Aber die Betroffenen selbst können nichts tun und das Rechtssystem selbst kann sich auch nicht helfen.
Nach meiner Meinung gehört es aber zu einem auf Funktionsfähigkeit gerichteten Rechtssystem hinzu, diesem System Korrekturnormen hinzuzufügen, die es erlauben, dass sich das System, wie weiland Münchhausen am Schopfe selbst aus dem Sumpf zieht. Luhmann und Teubner würden das die Selbststeuerungskraft, also die Autopoetik, des Systems nennen.
Damit bin ich am Ende meiner Geburtstagsgrüße angekommen: Nach meiner Meinung gebietet das Prinzip des Rechtsstaates die Schaffung von Korrekturnormen, die es erlauben, dass sich das System selbst korrigiert, wenn es Wettbewerbsverfälschungen, Diskriminierungen, Fehlanreize und ähnliches mehr enthält und dies aufgedeckt wird. Auf welchem Wege man den Korrekturmechanismus letztlich um- und durchsetzen würde, ist eine Frage, über die man sicher vertieft diskutierten müsste. Die Amts- und Landgerichte dürften überfordert sein – aller Wahrscheinlichkeit nach wäre die Korrektur des Rechtssystems entweder eine Aufgabe der obersten Gerichtshöfe in bestimmten Rechtsbereichen und/oder eine Aufgabe des Bundesverfassungsgerichtes. Letztlich aber, und darum geht es mir, muss die Erkenntnis um sich greifen, dass das Rechtssystem auf Funktionalität angelegt ist und deshalb einer Korrekturnorm zwingend bedarf, wenn Funktionsstörungen erkannt sind. Geschieht dies nicht, so verliert der Rechtsstaat letztlich seine Glaubwürdigkeit und Legitimation, die im Kern darin besteht, dass das Recht angemessen, verhältnismäßig, diskriminierungsfrei und sozialadäquat seine Steuerungsfunktion erfüllt und dafür zur Überprüfung den Rechtsweg eröffnet.