Comment on: Udo Reifner, Chapter 17 – Renting a Slave – European Contract Law in the Credit Society (2007) in Wilhelmsson/Paunio/Pohjolainen (eds), Private Law and the Many Cultures of Europe, 325-342.
von Brigitta Lurger

 

In seinem Artikel „Renting a Slave – European Contract Law in the Credit Society“ hat Udo Reifner vor ca 11 Jahren den Finger ohne Schonung auf alle wunden Punkte des “Europäischen Vertragsrechts”, wie es sich damals de lege lata und im Gesetzgebungs­projekt des European Civil Code (ECC) der Study Group des Christian von Bar präsentierte, gelegt.  Was mich an dem Text auch in der nachträglichen Lektüre so besonders fasziniert, ist die Tatsache, dass der Autor über den mittlerweile hinlänglich bekannten und akzep­tierten Kritikpunkt, die EU beschäftige sich in inadäquater Weise (Informa­tions­para­dig­ma, Marktschutz) nur mit Zielschuldverträgen, nicht aber mit Dauerschuldverhältnissen wie Kredit, Miete und Arbeit und klammere damit die Verantwortung für soziale Gerech­tigkeit völlig aus, weit hinaus geht. Ich möchte aus dem feierlichen Anlass, zu dem wir als Freunde und Freundinnen von Udo Reifner diese Anmerkungen schreiben, kurz auf die Frage eingehen, wie sehr seine Kritik auch heute noch aktuell oder bereits überholt ist, und dies aus zwei möglichen Gründen: erstens – die EU hat möglicher Weise aus der damaligen Kritik gelernt oder nicht gelernt; zweitens – der wissenschaftliche Diskurs hat sich möglicher Weise weiter entwickelt und bestä­ti­gende oder widerlegende Erkennt­nisse zu Tage gefördert.

Erstens:

Der Blick auf die Rechtsentwicklung im EU-Vertragsrecht birgt wenig Überra­schendes. Die EU hat nicht wirklich dazu gelernt. An dem Status Quo des Ver­brau­cher­­vertragsrechts hat sich nichts Wesentliches verändert. Man hat den großen Entwurf des ECC (der zuletzt DCFR – Draft Common Frame of Reference – hieß) ad acta gelegt und bastelt nun schon im zehnten Jahr an einem neuen EU-Kaufrecht, bei dem man vor allem die Online-Märkte im Blick hat. Zum Miet- und Wohnrecht wurde ein großes FP7 Forschungs­projekt abgeschlossen (TENLAW; Leitung: Christoph Schmid), das aber bisher zu keinen bedeutenden Konse­quenzen in der EU Legislative geführt hat. Ein neues soziales Element in vertrag­lichen Beziehungen findet man dort, wo die EU den sog „vulnerable consumer“ eingeführt hat, nämlich vor allem im Recht der DAWI (Dienst­leis­tun­gen von allgemeinem wirt­schaft­lichen Interesse, wie zB Energieversorgung, Tele­kom­muni­kation). Im klassichen EU-Vertrags­recht des Verbraucherkredits, der Reisenden, des Fern­absatzes, der Gewähr­leistung, der Klausel­kontrolle hat sich legislativ nichts verändert. Der EuGH hat in Folge der sozialen Ver­werfungen, die in Spanien und einigen anderen Mitgliedstaaten nach der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2008 auftraten, einigen Verbraucher/innen, die ihre Kredite nicht zahlen konnten und deswegen dabei waren, ihr Dach über dem Kopf zu verlieren, durch eine weite verbraucherfreundliche Interpretation der EU-Klausel-Richt­linie (vorüberge­hend) aus der Patsche geholfen. Bis die EU-Legislative versteht, dass nachhaltige soziale Gerech­tigkeit nicht vom öffentlichen Recht allein zu erledigen ist, sondern auch im privaten Vertragsrecht eine zentrale Stellung einnehmen sollte, um ein europäisches rechs­staat­liches Sozialmodell kon­se­quent umsetzen und anderen nationalen und inter­natio­nalen Modellen, die überwiegend neo-liberal ausgerichtet sind, entgegensetzen zu können, dürfte es trotz anhaltender EU-Sinnkrise noch einige Zeit dauern.

Zweitens:

Im zweiten Punkt möchte ich darauf hinweisen, dass Udo Reifner drei grundlegende wunde Punkte des EU-Vertragsrechts hervorgekehrt hat, die seither durch eine Debatte und Forschungsanstrengungen aus ganz anderer Richtung zentral thema­tisiert und bearbeitet wurden. Die Forschungsrichtung heißt behavioral law and econo­mics (= BLE; zu Deutsch: Recht und Verhaltensökonomie). Die drei Punkte sind: das Ver­brau­cher­leitbild des EU-Rechts, die Rechtfertigung von staatlichem Paternalismus im Ver­braucher­recht und die mangelnde empirische Fundierung des gesetzgeberischen Schutz­ansatzes. Auf die Bedenken, auf die die (nicht notwendig damit verbundene, aber bisweilen vertretene) rechtspolitische Ausrichtung der BLE stoßen mag, will ich in diesem beschränkten Rahmen nicht weiter eingehen (siehe dazu Brigitta Lurger, Empi­ricism and Private Law: Behavioral Research as Part of a Legal-Empirical Gover­nance Analysis and a Form of New Legal Realism, ALJ 2014/1, 20-39). Dies erscheint ins­be­sondere dann vertretbar, wenn man die Forschungsrichtung weit, im Sinne einer Auf­forde­rung zu empirischer (psychologischer, soziologischer und anderer) Fundierung rechts­wis­senschaftlicher Einschätzungen, Postulate und Empfehlungen versteht. Die For­schungs­richtung der behavioral economics (= BE; zB Kahneman, Tversky) ist in den 1980ern in den USA entstanden und beinhaltet im Wesentlichen die Anwendung empirischer wirt­schafts­­psychologischer Studien auf die Ökonomie. Viele Jahre später wurde mit der BLE die Anwen­dung auf die Rechtswissenschaft begonnen (zB Thaler, Sunstein).

In der BE hat man sich vom unrealistischen Modell des „homo oeconomicus“, der aus­schließlich egoistisch am Eigennutzen orientiert, vernunftbegabt und unbe­schränkt in­for­mierbar ist, verabschiedet. Die empirische Entscheidungsforschung hat gezeigt, dass Menschen ihre Entscheidungen auch aufgrund von sozialen Bezügen und Gerechtigkeits­erwä­gungen treffen, also nicht nur egoistisch motiviert sind, dass sie häufig durch Emotionen angetrieben werden oder ihre Entscheidungen automatisiert haben, diese also nicht nur auf rationale Überlegungen gründen, und dass sie erschreckend wenig Informationen aufnehmen und verarbeiten können. Was aber bedeutet das für das normative Verbrauchermodell des EU-Rechts, das sog „Verbraucherleitbild“? Udo Reifner beklagt in „Renting a Slave“ (Seite 335), dass die Vertreter des EU-Informationsmodells die Verbraucher/innen für dumm, unerfahren, sorglos und unfähig zur rationalen Über­legung hielten. Damit rechtfertigten sie genau jene Art des Paternalismus, der im EU-Vertrags­recht vorherrsche, nämlich jenen der Informationspflichten und Widerrufs­rechte. Das trifft den Kern des Problems. Man muss einen wichtigen Punkt ergänzen, näm­lich, dass das EU-Recht gleichzeitig davon ausgeht, dass diese dummen, leicht verführ­baren Modell-Verbraucher/innen aber auch sehr leicht „rationalisiert“ und damit dem homo oeco­nomicus angenähert werden können: Man braucht Ihnen nur eine lange Liste an Informationen vor die Nase zu halten und ihnen die Möglichkeit zu geben, den Vertrag binnen 14 Tagen zu widerrufen, und schon wissen sie wieder, was für sie die vernünftige, zur Optimierung ihrer Interessen richtige Entscheidung ist. Die Verbraucher/innen sind also (a) dumm und unvorsichtig, wenn sie sich aber (b) recht anstrengen und nachlesen, können sie sich problemlos selber schützen.

Beides ist so nicht haltbar. Das belegen auch die mittlerweile zahlreichen empirischen Untersuchungen. Menschen, die sich nicht lange Zeit für rationale Überlegungen lassen, sondern intuitiv, emotional oder nach Faustregeln (Heuristiken) sehr rasch entscheiden, können – situationsbedingt – im Sinne von eco­logical rationality (siehe Gigerenzer) bessere Entscheidungen treffen als die rationalen Überleger/innen, also in Wahrheit die Schlaueren sein. Umgekehrt verbessern Informa­tionen und Widerrufsrechte aber keines­wegs im erhofften Ausmaß die Ent­scheidungs­qualität. Verbraucher/innen sind also so, wie sind, vielleicht gar nicht so dumm und so falsch orientiert, sie sind aber auch nicht wirklich großartig veränderbar. Sie werden niemals AGB lesen und daraus irgendeinen Vorteil ziehen können. Das stützt wieder die These Reifners, dass die Bedrohung nicht von der fehlerhaften Natur des Verbrauchers bzw der Verbraucherin herrührt, die oder der eben sträflicher Weise nicht homo oeco­nomicus ist, sondern von ganz anderer Seite: vom Markt und den Unternehmer/innen.

Udo Reifner schreibt zu Recht, dass solcher auf falschen Annahmen beruhender, neo-liberaler Paterna­lismus die Verbraucher/innen nicht ausreichend schützt und damit auch nicht deren Freiheit sichert, sondern einschränkt. Anders als in FN 26 angenommen, war ich diesbezüglich auch nie anderer Meinung. Die Freiheit, die mit zurückhaltenden neo-liberalen Schutzinstrumenten geschützt wird, ist lediglich die der Unternehmer/innen. Es kommt auf die Wahl der richtigen paternalistischen Instrumente an, die sowohl die Frei­heit der Verbraucher/innen als auch der Unternehmer/innen achtet und den Ver­brau­cher/­innen den Zugang zu fairen, sozial gerechten Vertragsbeziehungen sichert. Das von Udo Reifner verwendete Adjektiv „empowering“ für gutes Vertragsrecht (Seite 339) ist freilich zweideutig. Es wird häufig von neo-liberalen EU-Akteuren und BLE-Vertretern verwendet, um den Schutz von Verbraucher/innen auf die Hilfe zur Selbsthilfe zu reduzieren: Verbrauchererziehung und Verbraucherinformation stehen im Fokus. Sie sollen weitere beschränkende Eingriffe in den Markt überflüssig machen. Zu Kraft verholfen werden kann Verbraucher/innen im Sinne von Reifners „empowerment“ aber in erster Linie durch zwingendes Vertragsrecht, das knebelnde und unfaire Inhalte aus Verträgen einfach eliminiert. Das ist das viel wirkungsvollere „empowerment“.

Udo Reifner nimmt an und kritisiert völlig zu Recht, dass gängige Schutzin­strumente des EU-Rechts, wie insbesondere Informationspflichten und Widerrufsrechte, niemals empirisch getestet wurden (Seite 335). Wo ist der Beweis dafür, dass gerade dieser Schutz erforderlich ist? Mittlerweile wurden erste Projekte in Gang gesetzt, die gerade diese Schutzregeln empirisch auf deren Effektivität im Hinblick auf die Entscheidungsqualität von Verbraucher/innen getestet haben (ich selber betreibe eines von ihnen: Brigitta Lurger, Psychology meets Law: In Search of New Tools for Consumers Self-Protection”  Netherlands Journal of Consumer Law, 2017/6, 248-256). Auf deren Ergebnisse wird sich hoffentlich eine Reak­tion des EU-Gesetzgebers in näherer Zukunft gründen, die das EU-Recht den Vorstellungen seiner Kritiker/innen wie Udo Reifner etwas näher rückt.

Auf Seite 340 fällt Udo Reifner sein vernichtendes Urteil über die Rechtswissenschaft (im Hinblick auf das starre Festhalten am Kaufrecht als Modell für das gesamte Vertragsrecht): „Legal science has to a large degree lost this capacity and degenerated to a form of engineering existing power relations in society.“ Das ist eine alte, aber deswegen nicht weniger wahre und schmerzende Kritik der critical legal studies (USA). Sie muss gerade im Hinblick auf die erwähnte Tendenz, mit BLE und darüber hinaus empirische Forschung in die Rechtswissen­schaften stärker einzubeziehen, immer vor Augen gehalten werden. Zum Festzementieren der Machtverhältnisse durch Engineering darf natürlich auch BLE nicht verstärkend beitragen, läuft aber Gefahr dies zu tun, wie viele Publikationen aus den USA belegen. Vielmehr muss in der Rechtswissenschaft der Weg zu neuen fort­schritt­lichen Modellen und Schutzinstrumenten vorgezeichnet werden, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit in der Gesellschaft führen.

Zusammenfassend kann daher in Beantwortung der Eingangsfrage gesagt werden, dass Udo Reifners Artikel „Renting a Slave“ heute mindestens ebenso aktuell ist wie am Tag seiner Publikation.

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