von Edda Castelló

 

Im Vorwort zu Band 3 „Das Geld“ werden die „Mauern“ beklagt, „die juristische Spezialisten“ zwischen Bankvertrags- und Bankaufsichtsrecht, Wertpapier- und Darlehensrecht und Versicherungsrecht aufgebaut haben. Wohl wahr! Der Autor der Bände „Das Geld“, unser Jubilar, hat dabei das Versicherungsrecht am wenigsten im Blick. Dabei liefert die Versicherungsbranche reichlich Anschauungsmaterial für Versagen des Marktes und des Informationsmodells, für Rechtsverweigerung und Ungerechtigkeit. Beispiele gefällig?

1. Informationsflut

Die Verordnung über Informationspflichten bei Versicherungsverträgen (VVG-InfoVO) umfasst fünf Seiten. Die sich daraus ergebenden Informationen, die der Verbraucher vor oder bei Vertragsschluss ausgehändigt bekommt, kommen leicht auf die zehnfache Seitenzahl. Allgemeine Versicherungsbedingungen, Besondere Versicherungsbedingungen, Merkblätter zur Dynamik, zur Steuer, zum Datenschutz, Hinweise zum Widerrufsrecht, Modellrechnungen. Dazu gibt’s Bedingungen zu Zusatzversicherungen wie Berufsunfähigkeit oder Unfall. Bei Fondsgebundenen Policen zusätzlich mehrere Seiten über die Struktur und Anlageziele der möglichen Fonds. Weil der Gesetzgeber wohl auch einsah, dass das ein bisschen viel Lesestoff für Verbraucher ist, erfand er das „Produktinformationsblatt“. Darin muss der Versicherer die Kunden auf Informationen von besonderer Bedeutung hinweisen, und zwar, „übersichtlich, verständlich und knapp“. Auch die Produktinformationsblätter umfassen inzwischen in der Regel ein halbes Dutzend Seiten. Alles in allem eine Zumutung für den Verbraucher. Sie sind ein Musterbeispiel für gesetzliche Informationsrechte, die in die falsche Richtung weisen (Das Geld, 3, S. 172). Aus Verbrauchersicht ist solches Übermaß an Informationen allenfalls nützlich, wenn Verstöße gegen die Informationspflichten sanktioniert werden und ein Schlupfloch bieten, sich von einem ungeliebten Vertrag ohne großen Verlust zu lösen. Doch die Verordnung sieht irgendwelche Sanktionen bei Verstößen gegen die Informationspflichten nicht vor. Rechtsprechung, die dem Kunden bestimmte Rechte bei fehlenden, falschen oder irreführenden Informationen zubilligt, ist nicht bekannt.

Der Gesetzgeber wagt es nicht, materielle Regulierungen oder Verbote, wie Verbraucherschützer sie fordern, zu erlassen, sondern setzt auf Informationen für den Verbraucher. Nun beklagen auch die Versicherer die ausufernden Informationspflichten und proklamieren scheinheilig einen Schulterschluss mit den Verbraucherschützern. Letztlich sind die Informationspflichten für die Versicherer aber immer noch das kleinere Übel gegenüber wirksamen materiellen Eingriffen.

2. Sinnlose Widerrufsrechte

Bei den Immobilienkrediten haben sich Verbraucherverbände und Anwälte über Jahre mit Schrifttypen, Kommasetzung, Grammatik und Wortwahl von Belehrungen auseinandergesetzt (Das Geld, 3, S. 173), um aufgrund eines Formfehlers rechtliche Vorteile für den Verbraucher und den Mandanten herauszuholen. Das Pendant bei Lebens- und Rentenversicherungen ist die fehlerhafte Widerspruchsbelehrung, zu finden in rund 60 % der zwischen 1995 und 2007 abgeschlossenen Verträge. Der Ausstieg aus einem von vornherein ungeeigneten oder inzwischen als schlecht erkannten Vertrag, ohne die bei Kündigung üblichen Verluste hinnehmen zu müssen, ist natürlich individuell reizvoll. Doch der Weg dahin ist absurd kompliziert. Mehrere Dutzend BGH- und ungezählte Instanzgerichts-Entscheidungen mussten sich mit der Frage befassen, ob ein kursiver Text drucktechnisch deutlich ist, ob man statt Textform auch Schriftform sagen darf oder auf welche Vertragsunterlagen genau hingewiesen werden muss, damit die Widerspruchsfrist zu laufen beginnt. Meist schließt sich an den vom Verbraucher erklärten Widerspruch eine intensive Auseinandersetzung über die Höhe des Rückabwicklungsbetrages an, über Risikokosten und Nutzungen. Willkommener Streitstoff für die Branche, gut geeignet zum mauern, abwehren und kleinrechnen von Ansprüchen. Widerrufs- und Widerspruchsrechte waren eigentlich einmal dafür gedacht, eine nachträgliche Überlegungsfrist für voreilig abgeschlossene Verträge einzuräumen. Inzwischen sind sie zu formalistischen Regeln verkommen, die ihren ursprünglichen Sinn verloren haben. Aber geben wir nicht der Verbraucherseite und ihren Anwälten die Schuld, wenn sie spitzfindig nach Formfehlern suchen. Sie handeln in Notwehr. Die intensive Suche nach Formfehlern und deren Ausnutzung fände nicht statt, wenn die Verträge fair und ordentlich wären und die Verbraucher keinen guten Grund zum Ausstieg hätten!

3. Fehlender Wettbewerb

Dass der Wettbewerb bei Finanzdienstleistungen kaum etwas richtet, ist bekannt. Gleichwohl kann man als Verbraucherschützer ja nicht wirklich etwas gegen Wettbewerb haben. Machen wir uns also an einen Qualitätsvergleich! Bei Sparvorgängen ist die Rendite ein wichtiger Bewertungsmaßstab (neben der Sicherheit des angelegten Geldes, der Liquidität und der ethischen Verwendung). „Was kommt am Ende heraus?“ möchte der Sparer wissen. Bei Lebens- und Rentenversicherung erfährt der Kunde erst am letzten Tag der Anlage, oft 30 oder 40 Jahre nach Abschluss, wie viel er heraus bekommt. „Dumm gelaufen“ mag er denken, wenn der Vertrag in der Rückschau einen Ertrag von 1 oder 2 % Zinsen p.a. gebracht hat. Das nächste Mal mache ich es besser. Bloß: Bei Lebens- und Rentenversicherung gibt es kein „nächstes Mal“. Der Kunde ist inzwischen 65 Jahre alt. Man kann nur hoffen, dass er das Geld nicht in eine Rentenversicherung einzahlt…

4. Lügen haben lange Beine

Inzwischen sind die Unternehmen verpflichtet, ihren Kunden jedes Jahr eine „Standmitteilung“ zu übersenden. Sie soll darüber informieren, wie viel „Überschüsse“ (so nennt man einen Teil der Erträge) dem Vertrag gutgeschrieben wurden und wie viel davon „garantiert“ ist. Ein Blick auf die Standmitteilungen der letzten Jahre zeigt, dass die einstmals in Aussicht gestellten Überschüsse dahin geschmolzen sind wie Schnee in der Sonne. Dabei waren die vollmundigen Prognosen bei Vertragsschluss nicht selten maßgeblich für den Abschluss der Policen. Bloß: die Prognosen sind stets unverbindlich. Renditen können ins Blaue hinein versprochen werden. Treffen die Prognosen nicht ein, heißt es „wir haben’s auch nicht besser gewusst“. Im Zweifel hat der böse Finanzmarkt Schuld oder die EZB mit ihrer Niedrigzinspolitik. Fazit: Wer am schamlosesten das Blaue vom Himmel versprochen und illusorische Ablaufleistungen in Aussicht gestellt hat, stand als guter Anbieter da. Niemals wird ein Unternehmen wegen schlechter Leistungen vom Wettbewerb abgestraft.

5. Was kostet der Spaß?

Die Kosten eines Kredits sind seit Jahrzehnten als Effektivzins anzugeben. Die Kosten eines Lebens- oder Rentenversicherungsvertrages mussten bis 2007 im Vertrag überhaupt nicht genannt werden. Nur in etwa konnte man die Abschlusskosten erraten. Der sog. Höchstzillmersatz (das ist die Abschlussprovision, die höchstens zu Beginn des Vertrages einbehalten werden darf) von 4 % der Prämiensumme war nur ein Anhaltspunkt. Auch im Vertragsverlauf wurden weitere Abschluss- und laufende Verwaltungskosten von den Prämien einbehalten.

Erst seit 2008 sind die Abschluss- und Vertriebskosten und die Verwaltungskosten jeweils in Euro gesondert auszuweisen. Üblicherweise beginnt der Abschnitt, in dem die Kosten beschrieben werden, so: „Für den Vertrieb und die Verwaltung entstehen Kosten. Die werden Ihnen nicht gesondert in Rechnung gestellt.“ Hurra! Denkt der Kunde und liest meist nicht weiter. Wer das dennoch tut, erfährt, dass die Kosten „bereits in die Prämie einkalkuliert“ wurden. „Noch besser“, freut er sich. Doch diese verschwiemelte Formulierung verschleiert: die Kosten werden von den Prämien einbehalten, er muss sie also auf Heller und Pfennig bezahlen. Die verschiedenen Kostenpositionen werden teils in Euro und Cent, teils in Prozent oder Promillesätzen, bezogen auf unterschiedlich Größen und Zeiträume dargestellt. Die einzelnen Kostenpositionen erscheinen gering und harmlos. Die Darstellung verfälscht in grober Weise die tatsächliche gesamte Kostenbelastung.

Nun wäre eine fehlende Kostennennung bei einem Sparvertrag unschädlich, wenn man eine vertragliche Zusicherung über die Rendite hätte. Doch die gibt es hier nicht. Der sog. Garantiezins (Höchstrechnungszins) – früher einmal 4 %, inzwischen 0,9 % – ist nicht aussagekräftig, weil er sich nicht auf die Prämie bezieht, sondern auf die Prämie abzüglich Risikokosten in unbekannter Höhe und abzüglich Kosten in unbekannter Höhe.

6. Eine Gesamtkostenquote, die die Gesamtkosten verschleiert

Der Beitrag der Versicherungsbranche zum jahrzehntelangen Streit über die Angabe der Kosten bei Lebens- und Rentenversicherungen ist die Erfindung der „Gesamtkostenquote“ (reduction in yield). Der preisvergleichende Verbraucher wird annehmen, dass in dieser Zahl alle Kosten des Vertrages enthalten seien. Falsch! Der Wortteil „Quote“ muss misstrauisch machen. Tatsächlich ist es keine Kennzahl für die Kosten, sondern für Renditeeinbußen durch Kosten. Sie ist die Differenz zwischen einer ausgedachten Ablaufleistung und der ausgedachten Ablaufleistung minus Kosten, also die Differenz zwischen zwei hypothetischen Werten. Sie liegt meist bei 1 – 2 %-Punkten. Ist doch prima und preiswert, oder? Mitnichten. Die tatsächlichen Kosten machen bis zu 20 % der Summe der gezahlten Prämien aus. Mehr Täuschung als mit der „reduction in yield“ geht gar nicht! Kein Wunder, dass die meisten Versicherer diese „Kostenangabe“ freiwillig in ihre Produktinformationsblätter schreiben.

7. Provision als Steuerung

Eine Abschlussprovision ist an sich nicht böse. Sie wird es aber, wenn der angehende Kunde in keiner Weise die Geeignetheit oder die Qualität des Angebots prüfen kann und nichts von der massiv – provisionsgesteuerten – Interessegeleitetheit des Vertreters weiß, nicht wissen oder sie nicht bewerten kann. So sind Zig-Millionen Sparverträge in bester Drückermanier verkauft worden, die wegen ihrer Ungeeignetheit, der Langfristigkeit, der hohen Kosten und der mäßigen Überschüsse für drei Viertel der Kunden echte Verluste mit sich bringen. Der Verlust auf Verbraucherseite ist der Gewinn auf der Anbieterseite. Da die Erträge wegen der Niedrigzinspolitik inzwischen stark gesunken und überhöhte Provisionen nicht mehr so leicht zu erwirtschaften sind, wurden sie immerhin nach und nach gesenkt. Zu einem Provisionsverbot konnte der Gesetzgeber sich aber bislang nicht durchringen. Immer noch bringen Policen, die schlecht für den Verbraucher sind, die besten Gewinne für Vertreter und Versicherer.

8. Teilzahlungszuschlag

Versicherungsprämien sind jährlich im Voraus fällig. Viele Verbraucher können Jahresprämien schwer auf einmal aufbringen und zahlen ihre Prämien daher meist monatlich, quartalsweise oder halbjährlich. Dafür ist ein Teilzahlungszuschlag fällig. So weit, so gut. Die Kosten für den Zuschlag werden in den Bedingungen angegeben, meist sind es 2 – 6 %, die auf die Jahresprämie aufgeschlagen werden. Doch die Effektivzinsen sind viel höher, weil der Verbraucher durch die unterjährige Zahlung den Kredit laufend tilgt. Die Effektivkosten des Teilzahlungszuschlags belaufen sich auf bis zu 20 % p.a.. Gegen die irreführende Preisangabe bei Krediten hat Verbraucherzentrale Hamburg zahlreiche Versicherer verklagt. Doch der Bundesgerichtshof segnete die Praxis der Branche ab. Weiterhin darf die Branche Kredite ohne Effektivzinsangabe anbieten. Schlimmer noch: Mit einer grob irreführenden, viel zu niedrigen Zinsangabe. Wir warten auf einen Verbraucher, der seinen Versicherer wegen Wucher verklagt.

9. Intransparente Überschüsse

Der Mehrwert bei Kapital bildenden Versicherungen soll durch die Gutschrift von Überschüssen erfolgen. Ich kenne im gesamten Finanzdienstleistungsbereich keinen Aspekt, der intransparenter gestaltet ist als die Ermittlung der Überschüsse und deren Verteilung auf die Verträge. Für die unterschiedlichen Überschussarten Kapitalerträge, Risikoüberschüsse, Kostenüberschüsse, Bewertungsreserven und Schlussüberschuss hat der Versicherer zahlreiche Stellschrauben, mit denen er die Höhe „gestalten“ kann – legal, halblegal oder illegal. Überdies werden inzwischen Milliarden in der Rückstellung für Beitragsrückerstattung (RfB) zwischengelagert und nicht zeitnah dem jeweiligen Vertrag gutgeschrieben. Der inzwischen auf über 50 Milliarden Euro angewachsene Topf der Zinszusatzreserve (= vorerst zurück gehaltene Überschüsse) soll die dauernde Erfüllbarkeit der Verträge sicherstellen (wobei das, was vertraglich zu erfüllen ist, ohnehin überaus mager ist und dem Sparen unterm Kopfkissen entspricht). Das „Versichertenkollektiv“ soll durch die Rücklagen geschützt werden – so der Versicherer-Sprech. Dumm nur: Sobald ein Vertrag durch Kündigung oder regulären Ablauf beendet ist, scheidet der Kunde aus dem Kollektiv aus. Individuelle Ansprüche zu Gunsten des Kunden entstehen nicht einmal in einer logischen Sekunde. Das Geld bleibt beim Versicherer zum Schutz des Kollektivs. Die maßlosen Rücklagen polstern die Kassen der Versicherer zu Lasten ihrer Kunden.

10. Friss oder stirb

An sich ist es gängige Praxis, Vorgängen von hoher Intransparenz zur Kompensation Auskunftsrecht gegenüber zu stellen. Nicht so bei Kapital bildenden Versicherungen. Rechenansätze und Rechenwege der oben dargestellten Überschussermittlung und –verteilung muss der Versicherer nicht offenlegen. Das ist vom Bundesgerichtshof (IV ZR 39/10) abgesegnet worden. Ob der Verbraucher den Rückkaufswert nach einer Kündigung oder die Höhe der Ablaufleistung anzweifelt oder auch nur irgendwie überprüfen möchte: Keine Chance. Man muss schlicht die Zahlen akzeptieren, die der Versicherer nennt. Ist es bei gekündigten Verträgen mindestens die Hälfte des eingezahlten Geldes oder bei regulär abgelaufenen Policen gerade einmal die Versicherungssumme (= in etwa die Summe der eingezahlten Prämien), so hat der Verbraucher faktisch keine Prüfoption.

11. The Poor pay more

The poor get less – das gilt bei Kapital bildenden Versicherungsverträgen. Regelmäßig werden Laufzeiten von mehreren Jahrzehnten vereinbart. Die langen Laufzeiten erhöhen das Abbruch-Risiko. Wer seine Prämie nicht mehr zahlen kann (die Gründe sind die gleichen, die zu Rückständen bei Kreditraten führen), muss den Vertrag entweder prämienfrei stellen oder kündigen. Dann wird die schlechte Qualität dieser Verträge sichtbar. Ein großer Teil des Geldes, das meist einmal für die Altersvorsorge gedacht war, ist schlicht weg – oft viele Tausend Euro. Rund drei Viertel aller Policen werden vor dem eigentlichen Ablauf beendet. Von einer – wenn auch bescheidenen – Verzinsung ihres Ersparten können die betroffenen Verbraucher nur träumen.

12. Den Rest erledigt die Verjährung

Sinnentleerte Widerspruchsrechte und Informationspflichten. Falsche provisionsgesteuerte Beratung. Magere Rückkaufswerte bei Kündigung. Sinkende Überschüsse. Keine Auskunftsrechte. Aber das Zivilrecht gewährt doch immerhin Schadensersatzansprüche bei falscher Beratung? Im Prinzip: Ja. Aber: Den Rest erledigt die Verjährung. Wenn Versicherungsnehmer ein Bankdarlehen und eine Lebensversicherung miteinander kombinieren, beginnt die zehnjährige Verjährungsfrist für einen Anspruch bei Falschberatung bereits mit Abschluss der zur Finanzierung empfohlenen Verträge (BGH XI ZR 430/16). Die Verjährung ist also in der Regel abgelaufen – meist zehn bis zwanzig Jahre – bevor die Falschberatung erkennbar wird – was meist erst bei Ablauf der Versicherung der Fall ist. Auf diese Variante der Rechtsverweigerung muss man erst einmal kommen. Hätte der 11. Senat anders entschieden, wenn er einmal bei den KollegInnen des 4. Senats – zuständig für Versicherungsrecht – nachgefragt hätte?

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Wissenschaft und Praxis

Anmerkung zu Edda Castelló „Das Geld“ und das Versicherungsrecht

Die Probleme des Verbraucherschutzes bei Finanzdienstleistungen werden auf den Punkt gebracht. Davon habe ich seit 1983 ständig profitiert, ohne dass ich wie am Anfang, als wir in der Verbraucherzentrale, im Fernsehen („Rufen Sie uns an! NDR 3 mit Bernd Lepthin) oder in den Beratungsecken der Illustrierten noch direkt auf die Probleme Betroffener eingingen, selber noch in der Praxis tätig war. Damit gerät aber Wissenschaft wie es das Finanzamt ausdrückt in den Verdacht der „Liebhaberei“,  Edda Castellé hat immer dagegen an gewirkt.

Information statt nachhaltige Produkte

Nehmen wir die Informationsflut. Sie ist eine mit Wissenschaftlern ausgeheckte Kopfgeburt der Politik, die die Geldnutzung von Wucher- und Wettverboten befreite und stattdessen den Verbraucher darauf hinwies. Das Ergebnis sind 18 Seiten Kreditvertrag, wo früher eine halbe Seite ausreichte. Beim Versicherungsvertrag ist es besonders schlimm, weil er ein reines Rechteprodukt darstellt. Es wäre einfach gewesen, diese Deregulierungswelle durch Informationsrechte als das zu entlarven, was Castelló als „eine Zumutung für die Verbraucher“ bezeichnet.

Doch hier setzt die Wissenschaft ein. Bei Wucher und Betrug geht es nicht mehr um den Wucherer und Betrüger, sondern darum herauszufinden, welche Schuld die Opfer trifft. „Gesucht, der mündige Verbraucher“ lautete der Bestseller von Scherhorn, mit dem die Unmündigkeit der Menschen gegenüber den Geldangeboten in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt wurde. Ein Rattenschwanz an Angeboten zu „finanzieller Allgemeinbildung“ war dann das Passepartout für Überschuldung, unnütze Versicherungen, wertlose Altersvorsorge u.s.w. Als die Zahlen deutlich werden ließen, dass das nicht funktionierte, entdeckte man die humanen Konditionen der Informationsverarbeitung. Der Mensch ist kein Computer. Er braucht Überlegungszeit, egl. cooling-off-period. Das Ergebnis waren europaweite Widerrufsrechte für die erste Woche nach Vertragsschluss, die dem Verbraucher dann ein Lösungsrecht anbieten, wenn er sich gerade  froh darüber, dass er es hinter sich hat, zurücklehnt. Als ob man das nicht im Wohnraummiet- und Arbeitsrecht hätte studieren können. Es mag beim Brötchenkauf auf dem Internet funktionieren. Finanzdienstleistungen habe eine andere Wirkung.

Legitimationswissenchaften

Doch die „Wissenschaft“ bleibt auch demgegenüber nicht untätig. Man erfindet die Informationsassymmetrie und erhöht über das beinahe kostenfreie Internet die Schlagzahlen der Informationsverarbeitungszumutung. Als die Krise dann Lehman-Geschädigte hervorzeigt, die das alles nicht über den Verlust ihrer Altersvorsorge tröstet, kommt wieder etwas „Neues“ aus den USA. Informationsverarbeitung durch Human-Computer ist gefühlsabhängig. Die EU-Kommission mit ihren fälschlich als Verbraucherschutz etikettierten Informationsrichtlinien investierte in „Behavioral Finance“. Es kommt eben auch auf die Farbe des Informationsblattes an. Die Gestaltung soll es bringen. Man stellt fest, dass die Pornos im Internet mehr gefragt sind als die Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Produktbeschreibungen bei Finanzdienstleistungen

Das könnte man alles auch wissenschaftlich mit methodisch korrekten empirischen Untersuchungen ad absurdum führen. Doch das bezahlt niemand und Wissenschaft funktioniert nun einmal so. Das führt zur schrittweisen Übernahme der Verbraucherforschung durch das betriebswirtschaftliche Marketing. Das aber beweist die Richtigkeit eines Menschenbildes verehrt, wonach der Autismus das Typische ist. .

Einen Katalog der Verbraucherprobleme mit dem Versicherungs- bzw. Finanzdienstleistungsrecht, wie er hier auf zwei Seiten ausgebreitet wird, bringt weder die wissenschaftliche Diskussion noch der Versuch, die Praxis durch Simulation und repräsentative Erhebung zu repräsentieren, hervor. Dazu dient allein die individuelle Beratung als wechselseitiger Informationsprozess: der Verbraucher erhält Hilfe, die Beratungsstelle zugleich belastbare Informationen.

Verbraucherdemokratie durch Verbraucherberatung

Hier fallen Daten an, die nirgendwo anders erreichbar sind. Aus diesen Daten schöpft der vorliegende Bericht. Das könnte man aber auch systematisch betreiben, so wie wir es mit den iff-Überschuldungsreports letztlich geschafft haben. Ebensolche Software wäre auch in der Bewältigung von Kredit-, Versicherungs- und Anlageberatung einsetzbar. Allein die Trennung des Verbraucherschutzes in Spitze und Basis hat über die Jahrzehnte verhindert, dass aus den vielversprechenden Ansätze der EDV-Programme CALS; FOQB, BAUFUE zusammengefasst in iff-FinanzCheck von Seiten der Wissenschaft eine Brücke zur Praxis geschlagen worden wäre. So darf man oben mutmaßen, was die Probleme sind. Unten dagegen kann man sie vornehmlich als Narrative verwenden. Das Anschwellen kollektiver Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten nützt halt nichts, wenn die Fälle dazu fehlen.

Nur an einer Stelle zeigt sich für mich, dass Wissenschaft korrigieren könnte. Beratung und Daten produzieren oftmals auch ein Bild, dass von den Zusammenhängen ablenken kann. In meinen Büchern habe ich die These infrage gestellt, ob gezähmte Provisionsanreize den Verbraucherschutz erhöhen würden. Ich bin vom Gegenteil nicht überzeugt. (Udo Reifner)