von Helena Klinger
1. Aktuelle Entwicklungen
Die langjährigen Bestrebungen, ein umfassendes europäisches Vertragsrecht für den seit dem 1. Januar 1993 bestehenden gemeinsamen Binnenmarkt zu entwickeln, sind „ins Stocken geraten“.((So auch: Gsell, ZUM 2018, 75, 77 („All diese Versuche sind entweder gescheitert oder stecken geblieben oder nur in dermaßen beschnittener Form Gesetz geworden, dass die Ergebnisse weit hinter den gesteckten Zielen zurückblieben.“)) Von den „Principles of European Contract Law” (PECL), über die “Principles of European Law“ (PEL), den “Draft Common Frame of Reference” (DCFR) bis hin zum “Common European Sales Law“ (CESL) verengte sich zunehmend der Regelungsbereich. Umfasste dieser zunächst neben den kauf- insbesondere auch dienstleistungs-, vertriebs-, bürgschafts-, schenkungs-, miet-, und kreditrechtliche Materien, betraf der 2011 vorgelegte Vorschlag des „Common European Sales Law“ (CESL)((Vorschlag für eine Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht v. 11.10.2011, KOM(2011) 635.)) lediglich das Kaufrecht mit angrenzenden Nebenfragen. Gegen diesen Vorschlag, welcher in dem Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht ein das nationale Recht ergänzendes und den Parteien optional zur Auswahl stehendes Regelungssystem sah, wandten sich diverse Stimmen.((Basedow, ZEuP 2015, 432ff.; Tonner, EuZW 2010, 767, 771.)) Zum einen wurde die Verletzung des Prinzips der Subsidiarität sowie der Verhältnismäßigkeit gerügt.((Bezug nehmend auf ein – wörtlich abgedrucktes – gemeinsames Schreiben der Justizminister von Frankreich, Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Österreich, der Niederlande und Finnland vom 28.11.2014: Basedow, ZEuP 2015, 432ff.; insofern Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses für den Deutschen Bundestag, BT-Drs. 17/8000.: abrufbar unter: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/080/1708000.pdf.)) Zum anderen fand Kritik, dass der Vorschlag für einige Mitgliedsstaaten ein Absenken des Verbraucherschutzniveaus beinhaltete.((Basedow, ZEuP 2015, 432, 435.)) Wohl auch aufgrund dieses politischen Widerstands zog am 16.12.2014 die Europäische Kommission in ihrem veröffentlichten Arbeitsprogramm für 2015 den Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht zurück.((Siehe Annex 2 Anhang zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen – Arbeitsprogramm der Kommission für 2015 – Ein neuer Start, v. 16.12.2014, KOM(2014) 0910 endg., Ziff. 60 „KOM/2011/0635 2011/0284/COD: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht: Der Vorschlag wird geändert, um das Potenzial des elektronischen Handels im digitalen Binnenmarkt voll zur Entfaltung zu bringen.“)) Erhalten blieb ein Rudiment des Vorschlags: zur Herstellung eines einheitlichen digitalen Binnenmarktes beschränken sich die zwei eine Vollharmonisierung bezweckenden Richtlinienentwürfe auf Verträge über die Bereitstellung von digitalen Inhalten und auf Verträge im Fernabsatz bzw. den Online-Warenhandel.
Vor dem Hintergrund dieser skizzierten unionrechtlichen Entwicklung des Europäischen Vertragsrechts lässt sich zugleich konstatieren: Von der anfänglichen Verbraucherkreditrichtlinie 87/102/EWG zur reformierten Verbraucherkreditrichtlinie 2008/48/EG, der Time-Sharing-Richtlinie 2008/122/EG, zur Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU, der Pauschalreiserichtlinie 2015/2302/EU bis hin zu den genannten zwei aktuellen Richtlinienentwürfen über die Bereitstellung von digitalen Inhalten sowie für Fernabsatzverträge und den Online-Warenhandel ist die bezweckte Rechtsvereinheitlichung auf dem europäischen Binnenmarkt dem Verbraucherschutz gewidmet. Insofern kann der Verbraucherschutz für sich in Anspruch nehmen, Innovationstreiber des Europäischen Vertragsrechts zu sein.
2. Konsequenzen für „Lebenszeitverträge“
Bis auf wenige Ausnahmen((Z.B. Art. 2 der Wohnimmobilienkreditrichtlinie 2014/17/EU.)) verfolgt die unionsrechtliche Regulierung in der Umsetzung des europäischen Verbraucherschutzes nunmehr das Prinzip der Vollharmonisierung. Ist der Verbraucherschutz einerseits Innnovationstreiber, sind den Mitgliedstaaten andererseits durch die angestrebte Vollharmonisierung Abweichungen zugunsten des Verbrauchers untersagt. „Die Vollharmonisierung droht mit dem kleinsten gemeinschaftlichen Nenner des Verbraucherrechts.“((Derleder, VuR 2011, 41.)) Damit steht das unionsrechtliche Prinzip der Vollharmonisierung in Widerspruch zum eigentlichen Ziel eines möglichst hohen europäischen Verbraucherschutzniveaus und einer Rechtsevolution durch den Wettbewerb nationaler Verbraucherschutzregeln.((U.a. Micklitz/Reich, EuZW 2009, 279, 284; Derleder, NJW 2009, 3195, 3198.)) Die rechtspolitische Konsequenz des unionsrechtlich bevorzugten Modells der Vollharmonisierung kann darin gesehen werden, dass einige Mitgliedsstaaten ein Absinken ihres Verbraucherschutzniveaus befürchten, politischen Widerstand leisteten und die Kompromisslösung nach harten und teils stockenden Verhandlungen nun lediglich einen engen Anwendungsbereich aufweist.((Gsell, ZUM 2018, 75, 77, 79.))
Dieser enge Anwendungsbereich ist bislang überwiegend auf das sog. Informationsmodell des unionsrechtlichen Verbraucherschutzes reduziert.((Tamm/Tonner, Verbraucherrecht, 2. Auflage, 2016, § 1 Rn. 21ff.; Knops, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Auflage, 2015, Art. 38, Rn. 16ff.; MüKoBGB-Micklitz/Purnhagen, Vorbemerkung zu §§ 13, 14, 7. Auflage, 2015, Rn. 64; BeckOGK/Herresthal, 1.1.2018, BGB § 311 Rn. 209.)) Ausgehend von der Privatautonomie und der Vertragsfreiheit als „ungeschriebenes Unionsgrundrecht“((BeckOGK/Herresthal, 1.1.2018, BGB § 311 Rn. 13.)) soll der Verbraucher durch Transparenz-, Informationspflichten sowie das Widerrufsrecht eine freiheitliche und wohlerwogene Entscheidung über das „Ob“ des Vertragsschlusses treffen. Das in der Abschlusskontrolle zum Ausdruck kommende Informationsmodell ist jedoch nur die eine Seite der Medaille, wie dies die Rechtshistorie auch erweist: Informationspflichten, wie im deutschen Recht z.B. aus „culpa in contrahendo“, entwickelten sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben.((OLG Nürnberg NJW-RR 1989, 815; LG Köln NJW-RR 1989, 816.)) Dieser Grundsatz ist kein deutsches Phänomen, sondern findet sich auch im nationalen Recht anderer Mitgliedsstaaten wieder.((MüKo BGB/Schubert § 242, 7. Auflage 2016, Rn. 156.)) Zugleich steht Treu und Glauben nicht lediglich für eine prozedurale Abschlusskontrolle, sondern kann auch zu einer Rechtsbeschränkung führen,((BeckOK BGB/Sutschet, 44. Ed. 1.11.2017, BGB § 242 Rn. 47.)) mithin den Vertragsinhalt und seine Durchsetzung bestimmen.
Die zuletzt genannten Parameter und eine gegenseitige Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen des Partners gewinnen an Gewicht für sog. Lebenszeitverträge, die Verbrauchern als „natürliche Person“ im Rahmen eines Dauerschuldverhältnisses den Bezug „von lebenswichtigen Gütern, Dienstleistungen, Arbeit und Einkommensmöglichkeiten“ gewähren.((Vgl. Nr. 1 der Prinzipien von Lebenszeitverträgen.)) Neben dem informationellen Verbraucherschutz, welcher Informationsdefizite und eine mangelnde Geschäftserfahrung innerhalb der Grenzen eines „information overload“((Derleder, NJW 2009, 3195.)) auszugleichen vermag, sind für Lebenszeitverträge Aspekte des sozialen Verbraucherschutzes besonders zu berücksichtigen, die den Vertragsinhalt und die Vertragsdurchführung betreffen. Während „spot-Verträge“,((Reifner, Zur Zukunft des europäischen Vertragsrechts – Soziale Dauerschuldverhältnisse in der Kreditgesellschaft in: VuR Sonderheft 20 Jahre iff, 1. Auflage, 2007, S. 1ff.)) einem Kaufvertrag vergleichbar, sich lediglich im Vertragsschluss und dem einmaligen Leistungsaustausch erschöpfen, verlangen Lebenszeitverträge als Dauerschuldverhältnis eine auf langfristige Kooperation ausgerichtete Partnerschaft zwischen den Beteiligten. Für Lebenszeitverträge existiert während der vertraglichen Nutzungszeit kein Markt, wie ihn die prozedurale Abschlusskontrolle voraussetzt.((Reifner, VuR 2012, 377.)) Damit verlagert sich die Relevanz des zu gewährenden Verbraucherschutzes von der Abschlusskontrolle zu einer die Vertragstreue und gegenseitige Rücksichtnahme in den Fokus rückenden Regulierung der Vertragsdurchführung.
Die aktuellen Entwicklungen auf dem Wirtschaftsmarkt für Konsumenten stützen diese These: So weicht das bisherige Kaufvertragsmodell zunehmend der sog. „sharing economy“ und dem „access over ownership“.((Die Europäische Kommission nutzt den Begriff:„collaborative economy“: http://ec.europa.eu/growth/single-market/services/collaborative-economy_de.)) Verbraucher erwerben den Zugang zu Nutzungsrechten statt dem Eigentum an einem Kaufgegenstand. Kaufte man früher einen privaten PKW, nutzt man als Verbraucher jetzt „carsharing Modelle“. DVDs oder CDs werden abgelöst durch das „Streaming“ entsprechender Video- und Audiodateien aus einem vom Anbieter zur Verfügung gestellten Netzwerk. Gewährte das Eigentum einem bislang neben der Ausschlussfunktion i.d.R. auch eine jederzeitige Nutzungsfunktion, wird Letzteres nunmehr über Nutzungsverträge als Dauerschuldverhältnis gewährleistet.((Reifner spricht insoweit von der gemeinsamen Wurzel dieser Verträge: der Nutzung von bzw. auf Zeit (Thesen zur Dogmatik eines sozialen Nutzungsvertrages, Festschrift für Peter Derleder, Zivilrecht im Wandel, 2015, S. 369, 389).)) Lebenszeitverträge, die Verbrauchern einen Zugang zu lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen gewähren, geraten daher zunehmend in den Fokus.
Auch die unionsrechtliche Regulierung beginnt diese Entwicklung im besonderen Maße zu berücksichtigen. So sieht der Richtlinienvorschlag zur Bereitstellung digitaler Inhalte ein jederzeitiges Kündigungsrecht für Verträge mit einer Laufzeit von mehr als zwölf Monaten,(8Art. 16 Abs. 1.)) den Schutz personenbezogener Daten nach dem Vertragsende((Art. 13 Abs. 2.)) und die „Kostenneutralität“ für Updates vor.((Art.15 Abs. 1; siehe hierzu: Gsell: ZUM 2018, 75, 80.)) Diese Beispiele verdeutlichen, wie essentiell für Lebenszeitverträge das Modell des informationellen Verbraucherschutzes um die Regelungen eines sozialen Verbraucherschutzes zu ergänzen ist. So ist der soziale Verbraucherschutz auf die Gewährleistung eines ethischen – unveräußerlichen – Mindeststandards gerichtet und Abweichungen hiervon, die diesen Schutzmechanismus untergraben, unterliegen einer Inhaltskontrolle.
Zusammenfassend ist zu postulieren, dass für Lebenszeitverträge nur ein Ineinandergreifen von prozeduraler Abschluss- und materieller Inhaltskontrolle eine Vertragsgerechtigkeit gewährleistet. Insofern bleibt zu hoffen, dass mit dem Fortschreiten der „sharing economy“ und ihrer dauerschuldverhältnisgeprägten Nutzungsverträge auch die europäische Rechtsetzung ihr Informationsmodell um zunehmend materielle Inhalte und umfangreichere ethische Prinzipien((Klinger, Lebenszeitverträge – Natur und Ethik, in: Life Time Contracts, 2014, S. 189ff.)) erweitert.
3. Das Recht und seine Dimensionen
Zeitlebens ist Udo Reifner seiner ganzheitlichen Betrachtungsweise des Rechts treu geblieben. So sprach er von einem „Lebenszeitvertrag“ und sah die Parallelen zwischen den einzelnen Ausprägungen des Miet-, Kredit- und Arbeitsrechts. Unter seinem interdisziplinären Blickwinkel zwischen Soziologie, Philosophie, Ökonomie, Politologie bis hin zu geschichts-, literatur- und religionswissenschaftlichen Aspekten ergaben sich stets neuartige Bezüge. Diese gedankliche Freiheit, neben dem uneingeschränkten Eintreten für das ethische Prinzip des Schwächerenschutzes, zeichnet für mich sein bisheriges Lebenswerk aus, habe ich außerordentlich schätzen gelernt und mit ihm während meiner Hamburger Zeit geteilt. Für seinen Rückhalt und die wohlwollende Unterstützung bin ich ihm in besonderen Dank verbunden.