Die verlorene Wahl

Die französische Zeitung Le Monde (17.6.2009 S.2) titelt „Die Sozialdemokratie: das unerwartete Opfer der Krise [La social-démocratie, victime inattendue de la crise]) Die SPD und ihre Schwesterparteien in der EU haben die europäischen Wahlen gründlich verloren. Wenn nicht alles täuscht wird die SPD auch in der Bundestagswahl 2009 Jahr ihre Zustimmung in der Bevölkerung seid Willy Brandt mehr als halbiert haben und den Anspruch einer Volkspartei aufgeben müssen.

Le Monde führt dies darauf zurück, dass die Sozialdemokraten in England, Deutschland und Frankreich die wichtigsten Deregulierer der Finanzmärkte waren. 20 Jahre hätten sie hier in Europa den Ton angegeben, allen Voran die Regierung Blair. Mehr Europa, weniger Einzelstaat, mehr Wirtschaft weniger öffentliche Verantwortung. Bis heute habe sich nichts geändert. So stünden viele Sozialdemokraten hinter dem Konservativen Barroso. „Die europäische Linke hat weder Führer, noch glaubwürdiges Programm“ resümiert das linksliberale Blatt, dass bisher eher den französischen Linken als den Gaullisten nahestand.

Der ruinierte Ruf – SPD und Großindustrie

Hinzu kämen jetzt die Skandale wie in England, wo sich auch bei Ministern und Abgeordneten privat jene ungebremste Geldgier zeigte, die sie als Motor der Finanzmärkte ganz generell frei gesetzt hatten. In Deutschland zeige sich dies eher in der Form des bruchlosen Übergangs des Ex-Kanzler und Parteivorsitzenden Schröder schon einen Monat nach der Abwahl zum reichen Lobbyisten Gazprom. Hinzuzufügen wären die Wechsel zur Industrielobby des SPD-Ministers und Ex-Chefs der Agentur für Arbeit Florian Gerster zu den privaten Postzustellern, des Superminister für Wirtschaft und Arbeit Clement zu den Leiharbeitsfirmen sowie des Staatsministers Hans-Martin Buri zu Lehmann Brothers zusammen mit dem Drama der drei führenden inzwischen in Strafverfahren verwickelten Berater aus der Großindustrie v. Pierer (Siemens), Hartz (VW) und Ackermann (Deutsche Bank).

Auch in Frankreich fanden reihenweise Wechsel aus der Parteispitze in die Industrie statt.

Man hat daher Schwierigkeiten, der SPD das neuerliche Streben nach sozialer Gerechtigkeit abzunehmen, wirken doch ihre Chefs, Müntefering aus der Düssledorfer Riege um Wolfgang Clement und Steinmeier, der dem Ex-Kanzler Schröder Habitus und Auftreten abgeschaut hat, wie die Nachhut eines Managerstaates, der das Wort „Reform“ unabhängig davon, wohin zu reformieren ist, zu einem kulturellen Wert hochstilisiert hat.

Geldmanagement als Politikersatz

Zugrunde gegangen sind die Sozialdemokraten an einer mit Helmut Schmidt bereits begonnen Argumentationskette. Schmidt kam mit der Idee, dass die Gewinne der eigentliche Motor jeder Wirtschaftsreform seien, denn sie seien die Investitionen von morgen, die wiederum die Arbeitsplätze von Übermorgen repräsentierten. Weil er auch noch die Mittelfristigkeit zum Gradmesser erhob, war es die perfekte Einstimmung in die neo-liberale Geldgesellschaft, auch wenn er sie in ihren Auswirkungen niemals so wollte und selber zu klug für ihre Plattitüden war.

Der Profit war zum Kriterium der Reform geworden und zwar der reine Geldgewinn und nicht der Gewinn an Wohlergehen, Gerechtigkeit und Frieden. Man wollte nicht die Alten versorgen, sondern die Altersvorsorge sanieren, man wollte nicht den Eltern helfen sondern ihnen mehr Geld für Kinder geben, man wollte nicht deutsche Spitzenforschung ermöglichen sondern Exzellenzinitiativen in München finanzieren, die sich bereits als lukrativ erwiesen hatten, man wollte nicht die Gesundheit fördern sondern deren Kosten reduzieren. Die SPD wurde damit zur Geldpartei schlechthin, die die Mittel notwendiger Reformen, Geldgewinne und Kostensenkung, zu eigenen Zielen erklärte. Entsprechend ist die private Geldgier mancher ihrer Manager ob durch Übertritt in die Wirtschaft wie in Deutschland und Frankreich oder Selbstbedienung im Staat wie in England oder Italien eher eine logische Folge dieser protestantischen Ethik.

Verständlich werden dann auch merkwürdige Fragen leitender SPD-Abgeordneter bei sozialen Sachverhalten, wie z.B. ob denn Überschuldete überhaupt ein Girokonto haben wollten oder Feststellungen, wie bei einem Vortrag in Köln vor Schuldnerberatern, dass man die Überschuldeten aus ihrer Armut herauserziehen sollte. Weil Geld der Maßstab sozialdemokratischen Erfolgs in Politik und Person geworden ist, hält sie der Wähler zu Recht für inkompetent, diese Krise zu meistern. Es sind Werte gefragt, die die Politik der Wirtschaft als Maßstab wie als Leitschnur vorgeben könnte. Sinnentleerte wirtschaftliche Effizienzmaßstäbe, die die Politiker aus ihren betriebswirtschaftlichen Kenntnissen in Politik umsetzen, haben an Attraktivität im Krisenmanagement verloren. Manager der Art, wie sie die Agenda 2010 verlangt, wie die Exzellenz- und Eliteinitiativen erfordern und wie das Effizienzdenken einer Schröder-SPD in der Globalisierung hervorgebracht hatte, sind weniger gefragt.

Die SPD als Gesamtbetriebsrat des Unternehmens Deutschland

Die SPD hatte ab den 79ziger Jahren zwei personelle Linien für die Politik. Einmal gab es die Willy Brandt Linie mit den emotional ansprechbaren Politikern wie Lafontaine, Engholm, Beck und Scharping sowie den Vorfrauen Simonis, Däubler-Gmelin, Ypsilanti, deren recht unwürdige Abgänge meist von der anderen Linie ins Werk gesetzt erstaunliche Ähnlichkeiten aufwiesen. Auf der anderen Seite war Schmidt, dessen Züge erst unter Schröder zur Familie wurden, als man den NRW-Nachlass nach Berlin holte. Man hätte wissen können, wie diese Politiker nach NRW nun Deutschland regieren würden.

In NRW gab es eine großindustrielle Tradition und die SPD hatte dort von jeher nur mit dem Betriebsratsmodell sich behaupten können. Betriebsräte sind in Deutschland anders als in Frankreich oder England, wo das Rätesystem sich durchsetzte, keine Kollektivorgane sondern nach dem Modell der gelben Gewerkschaften gestrickt. Sie repräsentieren die Arbeitnehmer nur, insoweit sie „Betriebsmitglieder“ sind. Der Betrieb ist ihre Klammer auch zum Management. Der Betrieb ist zugleich auch das Denkschema. Ihm muss es gut gehen, damit es den Arbeitnehmern gut gehen kann. Er ist nicht nur Arbeitsstelle sondern Sinngebung der Arbeit. Gäbe es nicht daneben die Gewerkschaften als überbetriebliche Einrichtungen der Arbeitnehmer, die UAGs der Firma Siemens mit dem Gemeinschaftsideologen Schelsky hätten in Deutschland wie in Japan das Sagen. Solche Vertretungsmodelle sind wirtschaftsfriedlich zum Wohle des Betriebes aufgebaut und werden nicht infrage gestellt, wenn der Betrieb immer weniger beschäftigt. Wichtig war allein, dass die, die darin arbeiten, gesichert und bedient werden. Zum Betriebsratsmodell gehören personalistische Organisationsformen, wie sie Peter Hartz bei VW und Schelsky bei Siemens vorgezeigt hat. Die Grenze zur Korruption ist fließend. Die SPD hatte von jeher die Wahl zwischen Generalstreikdebatte und Betriebsratsmodell. Im Stinnes-Legien-Abkommen wählte sie schon letzteres und überließ den Rest den Kommunisten.

Genau dieses Betriebsratsmodell hat die Schröder SPD auf den Staat übertragen. Dem Staat muss es gut gehen, dann geht es den Menschen gut. Weil es dem Staat gut geht, wenn es der Wirtschaft gut geht, muss der Staat für die Wirtschaft sorgen.

Peter Hartz war der ideale Partner. Gewerkschafter, Betriebsrat, Manager und Staatsreformer, wer konnte da noch unterscheiden. v. Pierer und Maschmeyer, Ackermann und Commerzbank-Müller, der Staatsbetriebsratsvorsitzende Schröder hatte sein Beraterteam auf Gemeinschaft aufgebaut.

Dass es dann in den Programmen und Debatten nur so von Exzellenz, Effizienz, Elite, Kostensenkung wimmelte, passt in die Spitzengespräche von zwei Managementfeldern, die sich trafen, das wirtschaftliche und das soziale Management. Beide hatten qualitativ dasselbe Ziel: Kosten senken, Gewinne erhöhen. Das Geld wurde zum Parteiprogramm der SPD. Der dialektische Widerspruch zeigt sich dann aber, dass trotz dieser Vernachlässigung von Perspektive, Zukunft, Langfristigkeit und Nachhaltigkeit in den sozialen Beziehungen die Reallöhne sogar noch sanken, also das Opfer nicht einmal sinnvoll erschien.

Ohne die SPD hat die soziale Gerechtigkeit keine Chance

Doch bei aller Wut darüber, wie man eine Partei so ruinieren konnte und mit derselben Garde antritt, die den Filz in Düsseldorf, Hannover und Berlin gestaltete, können wir doch bei der Humanisierung des Geldsystems auf die SPD als eine Partei der sozialen Werte nicht verzichten. In der sozialen Wirtschaftspolitik ist noch viel Platz. Die Grünen haben hier nicht Fuss gefasst und können aber auf ihre Wertorientierung in der Umweltpolitik sowie bei den Bügerrechten verweisen, die ihre gehobene Klientel goutiert. Die FDP kann die Werte des freien Individuums und des Schutzes vor staatlicher Bevormundung und Korruption wachrufen, auch wenn sie dafür einen großen Teil der Gesellschaft in Armut versinken lassen möchte. Um die soziale Frage bewirbt sich die SPD zusammen mit dem sozialkonservativen Flügel der Union und der Linken. Geissler und Blüm sind mit Gysi, Bisky und Lafontaine die Stars des Sozialen in den Fernsehshows geworden, die Manager der SPD blass aussehen lassen. Doch die Soziale Gerechtigkeit als der Schlüssel zur Politik des 21. Jahrhunderts hat mehr Wege. Die Union steht für eine soziale Gerechtigkeit in der christlichen Tradition der Armenfürsorge und des Almosens. Die Linke hat zwar vielen der Spitzen in der Sozialdemokratie eine neue Heimat geboten, kann aber ihre Basis nicht abschütteln, die soziale Gerechtigkeit als einen unmittelbaren Erfolg für ihr Portemonnaie ansehen und das Geld der Reichen an die Armen verteilen wollen. Alles ist wichtig aber nicht genug.

Was uns fehlt ist eine Partei, die mit ihrem Verständnis von sozialer Gerechtigkeit als einem individuellen Bürgerrecht antritt, bei dem die individuelle Freiheit mit der Chance zu kollektiver Macht ausgestattet eine solidarische Sichtweise erlaubt und damit soziale Gerechtigkeit zu einer Forderung jedes einzelnen Bürgers wird. Geldgewinne auch für die Armen wäre dann kein Ziel mehr, um Armut zu bekämpfen, Geld nur noch Mittel und der Staat kein Unternehmen, bei dem es nur auf den Geldgewinn oder Geldverlust im Staatshaushalt, der zur Bilanz degradiert wird, ankäme. Die SPD muss deshalb die Betriebsratsperspektive abschüttteln, die ja selbst in der Großindustrie eher zu sozialem Abstieg und Fehlallokation denn zu Fortschritt geführt hat. Das Progressive Element der Gesellschaft liegt heute eher im Kleinunternehmen, bei den Selbständigen und im non-for-profit Sektor. Eine gewerkschaftliche Perspektive allerdings erlöst aus der Enge der Arbeitsbeziehungen könnte das Potenzial der SPD wieder heben.

Die SPD hat mit der europäischen Sozialcharta im Bereich der lohnabhängigen Arbeit insbesondere in den gewerkschaftlich mitgeführten Großunternehmen Wichtiges geleistet. Sie hat übersehen, dass Arbeit heute in weit größerem Masse im Bereich der Selbständigkeit, kleiner Unternehmen, bei den ungesicherten Jobs, gemeinnützig und vor allem in Familie und Konsum selber geleistet wird und wir daher soziale Grundrechte für alle Formen der Arbeit und des Konsums brauchen. Dass das anders als bei der CDU nicht als Almosen oder durch Zuckerbrot und Peitsche und anders als bei vielen in der Linkspartei nicht durch Umverteilung und Verstaatlichung sondern durch Eigenverantwortung und kollektive Selbsthilfe zu geschehen hat, gibt der SPD weiterhin einen wichtigen Platz in der zukünftigen Gestaltung.